Der Kindersammler
zurückgelassen hatte.
Mit einem einflammigen Propangaskocher kochte er sich zuerst einen heißen Tee und überdachte seine Lage. Ohne Strom konnte er leben, genug altes Bauholz zum Verfeuern lag draußen herum, einzig und allein das Wasser war ein Problem. Spätestens morgen musste er sich auf die Suche nach einem See, Teich oder Bach machen, aus dem er Wasser zum Abkochen besorgen konnte. Er war sich nicht ganz sicher, vermutete aber, dass das Hahnenmoor Na turschutzgebiet war. In diesem Fall müsste das Wasser eigentlich einigermaßen sauber und trinkbar sein.
Hunger hatte er nicht mehr. Die Spaghetti würde er erst abends kochen. Er schlürfte seinen heißen Tee in kleinen Schlucken und war vollkommen zufrieden mit sich und der Welt. Das Leben war einfach großartig, und das Beste daran war dieses wohlige Gefühl, allein zu sein und von niemandem gestört oder belästigt zu werden.
Sein Blick fiel auf die Schlagzeile der Braunschweiger Nachrichten, und er überflog den Artikel über Benjamins Verschwinden und das Auffinden seiner Leiche. Es stand nichts Neues darin und auch nichts, worüber er sich hätte Sorgen machen müssen. Unangenehm fand er lediglich, dass Mareike Koswig an den Ermittlungen beteiligt war.
Doch dann verdrängte Alfred Mareike Koswig aus seinen Gedanken und gab sich vergnüglicheren Fantasien hin. Er sah im Geiste, wie junge Beamte und
Beamtinnen ohne jede Erfahrung, ohne jede Menschenkenntnis und mit wenig Ehrgeiz in der Laube herumstolperten, Spuren unbrauchbar machten, sich gegenseitig auf die Füße traten und sich Kompetenzen streitig machten. Wahrscheinlich wusste der eine nicht, was der andere tat. Dass die einzelnen Ermittlungsstränge koordiniert und geordnet zusammenlaufen und zu konkreten Ergebnissen führen würden, konnte Alfred sich nicht vorstellen. Er dachte an einen Haufen panischer Polizisten, die sich alle ungeheuer wichtig vorkamen, aber keinen klaren Gedanken fassen konnten.
Die Bilder in seinem Kopf wurden immer deutlicher, und er musste lächeln. Sie würden ihn nie überführen. Nie. Weil sie niemanden in ihren Reihen hatten, der ihm das Wasser reichen konnte. Polizisten waren biedere, obrigkeitshörige Kleinbürger, und keiner von ihnen war überdurch schnittlich intelligent. So wie er, Alfred. Keiner war auch nur ansatzweise in der Lage, eine Vorstellung zu entwickeln, was in seinem Kopf vorging, als er Benjamin Wagner und Daniel Doll tötete. Und weil sie ihn nicht verstanden, würden sie ihn auch nie finden.
Alfred wurde immer euphorischer. Er hatte jetzt keine Lust mehr, diesen dummen Artikel über die Hilflosigkeit der Polizei zu lesen, sondern schlug das einzige Buch auf, das er besaß und streckenweise fast auswendig konnte. Dostojewskis »Schuld und Sühne«.
Er saß im Schneidersitz auf der Pritsche und achtete darauf, den Rücken gerade zu halten. Das Buch lag aufgeschlagen auf seinen Knöcheln, dadurch hatte er die Hände frei, um ab und zu einen Schluck warmen Tee zu trinken. Jedes Mal, wenn er die Tasse wieder abgestellt hatte, faltete er die Hände in seinem Schoß.
Alfred las langsam, saugte jedes Wort in sich auf. »Nun, und die wirklichen Genies, also diejenigen, die das Recht haben, andere umzubringen, die sollen überhaupt nicht leiden, auch nicht für das von ihnen vergossene Blut?«
Doch, doch, dachte er und schloss einen Moment die Augen, doch, ich leide. Und las weiter: »Wer eine wirklich große Erkenntnis und ein wirklich tiefes Gefühl im Herzen trägt, dem bleiben Leiden und Schmerzen nie erspart. Und ich glaube, die wirklich großen Männer müssen zeitlebens eine tiefe Traurigkeit empfinden.«
Genau so ist es, dachte er, genau so. Er liebte dieses Buch, dies waren seine Gedanken. Sie waren ihm so vertraut, dass er oft glaubte, er hätte sie selbst zu Papier gebracht. Dostojewski und er— in Gedanken waren sie Brüder und verschmolzen immer mehr miteinander.
Er hatte mit dieser Welt dort draußen nichts zu tun. Sie war ihm lästig, weil sie ihn immer wieder zu irgendwelchen Dingen zwang. Er musste zahlen, lächeln, höflich sein. Sich ausweisen und Antworten geben. Er musste es sich gefallen lassen, dass man ihm guten Morgen wünschte, ihn ansprach und in ein
Gespräch verwickelte. Er musste sich an Gesetze, Hausordnungen und Ver kehrsregeln halten, er musste telefonieren und Briefe schreiben, Bescheid sagen, absagen, Vereinbarungen treffen Das alles war ihm so zuwider. Er wollte nur leben und sich ganz seinen Gedanken
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