Der Kindersammler
schüttelte sich vor Entsetzen und floh.
Henriette verlangte saubere Tücher, frische Laken, kochendes Wasser und heißen Tee. Alfred brachte ihr alles, was sie wünschte, und beruhigte seine Kinder. Er versuchte, die Zwillinge ins Bett zu schicken—ohne Erfolg. Erst als es ihnen zu langweilig wurde, vor der verschlossenen Tür zu hocken, zogen sie ab. Rolf blieb. Er saß neben seinem Vater auf der obersten Treppenstufe und schicke. Alfred hatte den Eindruck, als verstünde er bereits, was in dem Zimmer hinter der geschlossenen Tür vor sich ging. Die beiden saßen nebeneinander wie eine verschworene Gemeinschaft.
Als Alfred weinte, weil er die Schreie seiner Frau hörte, legte Rolf den Kopf an seine Schulter. Ob er auch weinte, konnte Alfred nicht sehen.
Gegen Morgen schliefen sie beide ein und wurden durch die schrille Stimme Henriettes geweckt, die ein winziges, in Handtücher gewickeltes Baby im Arm hielt.
»Ein Junge«, krähte sie stolz, als wäre es allein ihr Werk. »Endlich«, schluchzte Rolf, »endlich, endlich, endlich habe ich einen Bruder.«
Edith schlief ein paar Stunden. Unterdessen kochte Alfred seinen Kindern zum Mittagessen Kartoffeln und Eier. Das Baby lag in einer von ihm selbst geschnitzten Wiege. Jeder, der an der Wiege vorbeiging, gab ihr einen Tritt, sodass sie ständig hin und her schaukelte. Der kleine Junge war zufrieden. Er grunzte, nuckelte am Daumen und stellte ansonsten keinerlei Ansprüche. Wenn er schrie, nahmen ihn die Zwillinge abwechselnd auf den Schoß und sangen »Hoppe Hoppe Reiter«, was ihnen aber sehr schnell langweilig wurde. Dann nahm Rolf seinen kleinen Bruder auf den Arm, flüsterte ihm Liebkosungen zu und drückte unzählige Küsse auf das kleine runde Gesichtchen, bis er wieder eingeschlafen war.
Am Nachmittag stand Edith auf, ging in den Stall, molk die Kühe und kam danach in die Küche, um das Abendessen zuzubereiten. Rolf saß am Fenster und hatte das Baby auf dem Schoß. Er lächelte seiner Mutter zu. »Ich habe einen Bruder«, wiederholte er immer wieder. »Endlich, endlich, endlich hab ich einen Bruder!« Er kitzelte ihn liebevoll und nuckelte an den winzigen Fingern.
»Lass ihn doch in Ruhe«, sagte Edith und räumte kopfschüttelnd den Tisch ab, auf dem immer noch die Reste des Mittagessens standen.
»Er lacht! Guck mal, Mama, er lacht!« Rolf war überglücklich.
»Babys können nicht lachen«, erwiderte Edith, während sie das schmutzige Geschirr in der Spüle stapelte. »Babys können nur schreien und weinen.«
Sie ließ Wasser ins Becken laufen, ging zu Rolf, nahm ihm das Baby vom Arm, setzte sich hin, knöpfte ihre Bluse auf, legte den Säugling an ihre magere, ausgemergelte Brust und schob ihm die Brustwarze zwischen die Lippen. Rolf sah fasziniert, aber auch voller Scham zu, er hatte die Brust seiner Mutter noch nie gesehen. Das Baby saugte, und Edith beachtete ihren großen Sohn gar nicht.
»Schmeckt das?«, fragte er leise.
»Nein«, sagte Edith. »Aber es kommt ja bei Babys auch nicht drauf an.«
In der Nacht stand sie dreimal auf, weil das Bündel schrie. Es schnappte gierig nach ihrer Brust und trank mit einer Kraft und einem Lebenswillen, der ihr fast den Atem nahm. Dabei dachte sie an die Nacht, als Alfred nach Monaten wieder einmal mit der Hand unter der schweren, viel zu warmen Bettdecke nach ihrem Körper getastet und sie sich nicht gewehrt hatte wie sonst, sondern einfach alles geschehen ließ. Insgeheim genoss sie es sogar und bat Gott gleichzeitig um Vergebung, aber er erhörte sie nicht, sondern strafte sie mit dem Bündel, das gerade das letzte bisschen Energie aus ihr heraussaugte. Sie hatte gesündigt. Wie bei den anderen auch, und die Buße dauerte zwanzig Jahre oder länger. Äm Anfang waren es die durchwachten Nächte, das Wissen, monatelang nie wieder eine Nacht durchschlafen zu können, dann waren es die Kinderkrankheiten, die Ängste und die Sorgen, mit denen Gott sie jeden Tag strafte.
Während der Schwangerschaft hatte sie sich gezwungen, jeden Tag drei Rosenkränze zu beten, um wenigstens die Heilige Mutter Gottes zu bitten, zum vierten Mal dem Schicksal einer Mutter entgehen zu dürfen. Drei Rosenkränze dauerten lange, und eigentlich fehlte ihr jeden Tag die Zeit dazu aber sie war stur und zog es durch. Neun Monate lang. Was sie ihrem Schöpfer versprach, das hielt sie auch.
Henriette Bosemann hatte das Baby unmittelbar nach der Geburt gewogen, gemessen, gewaschen und notdürftig untersucht. Soweit sie das in
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