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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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hatte sich auf Tumorfrüherkennung spezialisiert, sein Bruder Rolf war ein angesehener Architekt und arbeitete seit neuestem in Berlin im Ministerium für Bau- und Wohnungswesen. Mit seinem Bruder Rolf hatte er den meisten Kontakt, Rolf kam immer mal für ein paar Tage vorbei, um seinen jüngeren Bruder Alfred zu besuchen. Mit Rolf verstand er sich glänzend, er war ein sehr gebildeter Mann, wusste in fast allen Bereichen des Lebens Bescheid und war ihm sein Leben lang nicht nur Freund, sondern auch wohlmeinender Berater gewesen.
    Seit einiger Zeit ging es seiner Mutter nicht sehr gut. Sie war jetzt fünfundsiebzig, und Alfred hatte sie in einem Seniorenstift in Hannover unter gebracht, wo sie zumindest hervorragend versorgt wurde.
    Carla war von Alfreds Familie beeindruckt. Obwohl die Mutter ihre Kinder fast allein erzogen hatte, waren sie doch alle Akademiker geworden und hatten den Kontakt zueinander nicht verloren. Diese Familiengeschichte beruhigte sie, und sie fühlte sich noch wohler in seiner Nähe.
    »Hast du Kinder? Bist du verheiratet?«, fragte Carla. Jetzt wagte sie es, und es war für sie die zentrale Frage.
    »Ich habe zwei wunderbare Söhne«, sagte er und lächelte. »Der Große ist jetzt einundzwanzig und der Kleine zehn. Sie leben beide noch bei ihrer Mutter, zu der ich leider keinen Kontakt mehr habe. Insofern habe ich auch meine Söhne schon ewig nicht mehr gesehen. Hoffentlich wird das anders, wenn sie zu Hause ausgezogen sind.«
    Dass Alfred mit sechsunddreißig wohl kaum der leibliche Vater des Einundzwanzigjährigen sein konnte, fiel ihr nicht auf. Und während sie aufs Meer, das im Mondlicht glänzte, und in die Sterne schaute, wurden ihre Augen schwer. Sie kuschelte sich tiefer in ihren Teddymantel und war heilfroh, dass sie ihn angezogen hatte. Irgendwann schlief sie ein. Alfred hatte sie nicht ein einziges Mal berührt.
    Carlas Atemzüge wurden gleichmäßig und tief, und Alfred sah, dass sie eingeschlafen war. Das war ihm ganz recht, jetzt konnte er endlich aufhören, seine erfundenen Geschichten zum Besten zu geben, die ihm immer leichter über die Lippen kamen. Warum er Carla nicht einfach die Wahrheit über sich, seine Familie und vor allem über seinen Vater gesagt hatte, wusste er selbst nicht genau.
    Alfreds Vater, der auch Alfred hieß, war ein einfacher Bauer, der seine Familie über alles liebte. Eines Morgens im Mai 1954 arbeitete er gerade auf dem Feld, als sein neunjähriger Sohn Rolf angerannt kam und »Mama, Mama« schrie.
    »Was ist mit Mama?«
    »Sie schreit«, brüllte Rolf, »und sie weint und hat einen ganz roten Kopf.« Rolf schielte zum Gotterbarmen. Das tat er immer, wenn er verunsichert, ängstlich oder schrecklich aufgeregt war.
    »Ist die Hebamme da?«
    »Niemand ist da«, heulte Rolf. »Die Zwillinge auch nicht. Mama hat sie weggeschickt, Frau Bosemann zu holen, aber sie sind noch nicht zurück.«
    Alfred gab Rolf einen Kuss und nahm seine Hand.
    »Komm. Wir müssen uns beeilen.«
    Edith lag auf dem Küchenfußboden in einer Lache grünen, übel riechenden Fruchtwassers. Ihr Gesicht war nicht mehr rot, sondern kreidebleich, und sie hechelte wie ein Fisch an Land. Alfred nahm sie vorsichtig auf den Arm und wunderte sich dass sie sich nicht wehrte. Normalerweise wehrte sie sich gegen alles. Gegen jeden Satz, jede Liebkosung und vor allem gegen jede Bevormun dung. Sie einfach auf den Arm zu heben, kam schon einer Vergewaltigung gleich.
    »Verflucht noch mal«, murmelte sie und ließ sich von Alfred ins Bett tragen.
    Es muss ihr sehr schlecht gehen, dachte Alfred und liebte sie in diesem Augenblick. Ein Gefühl, das er schon Ewigkeiten nicht mehr gehabt hatte. Auch als er sich vor Monaten auf sie geworfen hatte und in sie eingedrungen war, war das keine Liebe, sondern nur Gier gewesen und der Wunsch, seine Einsamkeit und Verlassenheit für ein paar Sekunden zu betäuben.
    Alfred nahm ihre Hand, beobachtete ängstlich ihren schweren Atem und flüsterte: »Was soll ich tun? Sag's mir, ich tu alles für dich ...«, als Henriette Bosemann schon die Treppe heraufstürmte, gefolgt von den Zwillingen, die noch bleicher waren als ihre gebärende Mutter.
    Erschrocken ließ Alfred Ediths Hand los und gehorchte willig Henriette Bosemanns Kommando, mit dem sie Alfred und die Zwillinge aus dem Zimmer scheuchte. Alfred sah noch, dass Henriette die Bettdecke zurückschlug und seiner Frau mit zwei Fingern zwischen die Beine und in die Scheide fuhr, um den Muttermund zu ertasten. Er

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