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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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ihr der gestrige Abend und die Nacht ein, und sie war kurz davor, in Tränen auszubrechen. Sie war schuld. Sie hatte alles vermasselt. Sie war einfach eingeschlafen. Wahrscheinlich war er enttäuscht und verletzt, dass sie ihm nicht länger zugehört hatte. Und sicher war er frustriert, dass sie geschlafen hatte, bevor er zärtlich werden konnte. Es hätte so eine schöne Nacht werden können.
    »Guten Morgen, Prinzessin«, sagte er, als er sah, dass sie wach war, und lächelte. »Gut geschlafen?«
    »Es tut mir so Leid ...«, stammelte sie.
    »Was denn?« Entweder war er wirklich überrascht, oder er tat nur so.
    »Dass ich eingeschlafen bin. Als du erzählt hast.«
    »Aber das ist doch überhaupt kein Problem!« Er meinte es ehrlich, das spürte sie und entspannte sich ein wenig.
    »Heute verkaufe ich dieses Auto«, sagte er. »Ich habe drei Interessenten.«
    »Für wie viel?«
    »Achttausend.«
    Sie runzelte die Stirn. »So wenig? Diese Autos sind doch wahnsinnig selten!«
    »Ja, aber mehr ist es nicht wert. Achttausend. Dann bin ich zufrieden.«
    Alfred spürte, dass die Straße glatt war, und fuhr langsam und vorsichtig. Carla war immer noch schläfrig und schloss die Augen. Mit diesem Mann wollte sie überallhin gehen. Sie konnte sich keine Situation vorstellen, die er nicht im Griff hatte.

ENRICO
    29
    Siena, Juni 2004
    Langsam und etwas umständlich stieg er in seine Shorts und trat hinaus auf die Terrasse. Es war nicht weit bis zum Campo, und der hohe Turm des Palazzo Pubblico ragte deutlich über die verschachtelten Hausdächer. Kai zündete sich eine Zigarette an und setzte sich. Die Sonne versank so schnell, dass man zusehen konnte, und wurde von Minute zu Minute etwas intensiver orange. Unten auf der Via dei Rossi gab es schon seit zwei Stunden keine Sonne mehr.
    Der Himmel glühte. Orange, Rosa und Violett verflossen ineinander, auf jedem Gemälde eine unerträglich kitschige Kombination, in Wirklichkeit aber atemberaubend schön.
    Er liebte diese stillen Momente in seiner kleinen, einfachen Dachwohnung, zwei Zimmer, Küche, Bad, Terrasse und unverschämt teuer. Siena hatte Preise wie New York.
    Kai Gregori war ein großer, athletisch gebauter Mann, den der winzige Bauchansatz jetzt mit seinen fünfundvierzig Jahren nur menschlicher und liebenswerter machte. Das langsam grau werdende Haar stand in reizvollem Kontrast zu seinem stets sonnengebräunten Teint, was eher genetisch bedingt als dem Umstand zu verdanken war, dass er jedem Sonnenstrahl hinterherrannte. Seine eng zusammenstehenden Augen gaben ihm eine persönliche Note, die ihn davor bewahrte, mit männlichen Models aus Kaufhauskatalogen in einen Topf geworfen zu werden. Kai hasste seine extrem großen Füße daher trug er auch in den heißen Sommern der Toscana stets geschlossene Halbschuhe. Sandalen kamen in seinem Schrank nicht vor.
    Kai war ein Mensch, der bemerkt wurde, wenn er ein Restaurant betrat, er wurde im Alimentari-Laden nicht übersehen, und keine italienische Mama wagte es, sich diesem Mann vorzudrängeln. In Arztpraxen wurde er höflich behandelt, und ganz gleich, wie er angezogen war, man hielt ihn auf den ersten Blick immer eher für einen Aristokraten als für einen armen Schlucker.
    All diese Eigenschaften machten im Allgemeinen das Leben eher leichter als schwerer, und Kai wusste es zu schätzen. Zumal er sich noch nicht einmal Mühe geben musste zu flirten, die Frauen waren es, die versuchten, Kontakt mit ihm aufzunehmen, was er äußerst bequem und erfreulich fand.
    So hatte er sich in den dreißig Jahren seines sexuell aktiven Lebens nie über Mangel an Gelegenheiten beklagen können, und wenn es irgendwie ging, hatte er auch keine verpasst oder ungenutzt verstreichen lassen, was ihm schnell den Ruf eines Machos einbrachte. Für ihn war dies jedoch eher ein Kompliment als eine Beleidigung, er fühlte sich wohl in seiner Haut.
    Nur ein einziges Mal hatte er sich hinreißen lassen und einer zarten Brünetten mit pfenniggroßer Warze auf der linken Wange einen Heiratsantrag gemacht. Sie konnte ihn so durchdringend ansehen, dass ihm die Worte fehlten und die Augen feucht wurden. Sie wurde ihrerseits krebsrot, nahm unter dem Tisch seine Hand, schob sie unter ihren Rock und hauchte: »Du wirst es nie be reuen.«
    Er bereute es schon nach siebzehn Monaten. Während sie eine Floristikausbildung machte, studierte er Betriebswirtschaft und hatte es bald satt, beim Abendessen über »Blumengestecke in Moos auf Hasendraht« zu reden.

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