Der Kindersammler
diesem frühen Stadium überhaupt beurteilen konnte, war das Kind gesund und hatte an der Fruchtwasservergiftung keinen Schaden genommen. Aber sie meinte, man müsse abwarten. Spätschäden könnten auch noch in Monaten oder sogar Jahren auftreten.
Edith hatte dieses Kind nie gewollt. Als sie dies hörte, wollte sie es noch weniger, denn sie spürte, dass es nur Sorgen und Nöte über die Familie bringen würde.
An diesem ersten Morgen mit dem Baby im Haus fiel sie endlich gegen fünf Uhr morgens in einen Tiefschlaf, aus dem sie auch kein Babygeschrei mehr geweckt hätte. Und dadurch hörte sie die leisen Hilferufe ihres Mannes nicht, der bereits keine Kraft mehr hatte, sich deutlicher bemerkbar zu machen.
Als um sieben Uhr der Wecker klingelte, saß Alfred, der um diese Zeit normalerweise schon auf dem Feld war, zusammengesunken auf der Bettkante. Als sie ihm die Hand auf den Rücken legte und gerade fragen wollte, was los ist, flüsterte er: »Hol den Arzt. Schnell!«
Dann fiel er um.
Sie empfand die Situation als absurd und war in Gedanken völlig konfus. Sie schlüpfte in ihren Morgenmantel, zog die beiden Gürtelenden gleichmäßig lang, was ungefähr vier Sekunden in Anspruch nahm, verknotete die Kordel sorgfältig und lief die enge Treppe hoch, die zu einer kleinen Kammer unterm Dach führte, in der Rolf schlief, und schüttelte ihn wach.
»Schnell, lauf zu Doktor Scheffler. Er soll sofort kommen, Papa geht's nicht gut.«
Rolf rieb sich die Augen und starrte sie ungläubig an. »Das Baby?« »Es geht nicht um das Baby, es geht um deinen Vater! Los, beeil dich, verdammt noch mal!«
Rolf sprang aus dem Bett, schlüpfte in seine Hose und zog einen Pullover über. Am längsten dauerte es, die Schuhe anzuziehen, aber nach wenigen Sekunden raste er die Treppe hinunter und aus dem Haus.
Edith ging zurück ins Schlafzimmer. Alfred lag mit geschlossenen Augen und weit aufgerissenem Mund auf dem Bett. Sie beugte sich über ihn, aber da war kein Funken Leben mehr, nicht mehr der leiseste Hauch eines Atems.
Ihr starker Mann, der jede Schraube lösen, Bäume fällen, Ställe bauen, wild gewordene Bullen einfangen und Felsbrocken heben konnte, war einfach so gestorben.
Es dauerte fast zwanzig Minuten, bis Doktor Scheffler endlich da war. Er untersuchte Alfred nur kurz und schüttelte den Kopf. »Es ist nichts mehr zu machen«, sagte er. »Der Mann ist tot. Ein Sekundentod. Da gibt es keine Rettung. Wenn das Herz einfach stehen bleibt, ist jeder Arzt machtlos.«
In diesem Moment begann Edith zu schreien. Minutenlang. So schrill und durchdringend, dass es für niemanden der Anwesenden auszuhalten war. Die Zwillinge standen bleich und verstört im Türrahmen, Rolf knetete seine Fingerknöchel und schielte zum Gotterbarmen, und das Baby wimmerte, allein in seiner Wiege in der Küche.
Doktor Schefiler hielt Edith fest, die um sich schlagen wollte, und es gelang ihm, ihr eine Beruhigungstablette in den Mund zu schieben. Edith spuckte die Tablette gegen den Frisierspiegel im Schlafzimmer, wo sie erst kleben blieb und dann unendlich langsam herunterrutschte.
Nach fünfzehn Minuten hörte Edith auf zu schreien, und der Doktor verließ das Haus. Sie hob Alfreds Füße ins Bett, deckte ihn sorgfältig zu, strich ihm eine verklebte Haarsträhne aus der Stirn und sagte zu ihm: »Das verzeihe ich dir nie, dass du mich einfach so im Stich lässt.«
Dann wandte sie sich an ihre Kinder, die völlig verängstigt im Zimmer standen und die Szene entsetzt beobachteten.
»Euer Vater ist tot«, sagte Edith.
»Wahrscheinlich ist er aber bereits im Himmel angekommen. Macht euch keine Sorgen, es geht ihm sicher gut, und von nun an wird er von dort oben aufpassen, ob ihr artig seid oder nicht.«
»Aber wie kann er im Himmel sein, wenn er da im Bett liegt?«, fragte Luise.
»Ja, wie geht denn das?«, fragte auch Lene.
»Seine Seele ist im Himmel«, erklärte Edith. »Das da, was da liegt, das ist zwar der Papa, aber das ist auch nicht mehr der Papa.«
Rolf nickte und wischte sich eine Träne aus dem Auge, das aussah, als wäre es schon auf dem Weg zur Tür.
»Geh und hol das Baby«, sagte die Mutter. »Ich denke, wir werden es Alfred nennen.«
Noch nicht mal einen eigenen Namen haben sie mir gegeben, noch nicht mal das, dachte Alfred verbittert, bevor er wie Carla in einen kurzen, tiefen Schlaf fiel.
Carla erwachte um fünf, als er den Motor startete. Es schneite leicht. Die Autobahn wird glatt sein, dachte sie. Und dann fielen
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