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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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hatte keine Angst. Es war eine breite und derbe, eine sehr starke Hand, die harte Arbeit kennen gelernt hatte. Sie passte so gar nicht zu diesem feinsinnigen Menschen, fand sie, aber sie beruhigte. Diese Hand würde alles regeln, würde jede Gefahr besiegen. Sie war fasziniert von den Fingerknöcheln, die sich leicht hin und her bewegten wie die Klöppel im Innern eines Hügels bei einer leisen Musik. Und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als von dieser Hand berührt zu werden.
    »Es ist mein letzter Tag mit diesem Auto«, sagte er.
    »Warum?«, fragte Carla.
    »Es passt nicht mehr zu mir. Die Phase meines Lebens, in der ich unbedingt so ein Auto fahren musste, ist vorbei.«
    »Ein Manager mit so einem Schlitten ..., das ist schon irgendwie komisch ...«, sagte Carla und amüsierte sich im Stillen bei dieser Vorstellung.
    »Ja?«, fragte er und sah sie von der Seite an.
    »Ja«, meinte sie.
    Dann fuhr er schweigend weiter. Sie hatte viel Zeit, über ihn nachzudenken. Der Satz »es ist mein letzter Tag mit diesem Auto« beunruhigte sie nicht weiter. Sie kam gar nicht auf den Gedanken, dass er es gegen einen Brückenpfeiler setzen und sie mit in den Tod nehmen könnte. Sie dachte nur daran, dass sie sich schon lange nicht mehr so wohl, so gelassen, so sorglos gefühlt hatte. Alle Unsicherheit war verflogen. Sie fühlte sich, als kenne sie diesen Mann schon seit Jahren, als sei er seit ewiger Zeit derjenige, der seine schützende Hand über ihr Leben hielt und sie sanft durch eine Welt führte, die ihr gänzlich unbekannt war und die sie ohne ihn nie kennen gelernt hätte. Sie wollte ihn. Wollte ihn nicht mehr loslassen, wollte still in seiner Nähe sein und ihm überallhin folgen. Sie glaubte, endlich eine Schulter gefunden zu haben, an die sie sich lehnen, die Augen schließen und alles geschehen lassen könnte, was geschehen sollte.
    »Hast du Hunger?«, fragte Alfred.
    Carla schüttelte den Kopf. Sie hatte keinen Hunger, keinen Durst, keine Sehnsucht und keine Angst. Ihr war nicht kalt und nicht warm. Sie saß auf diesem beigefarbenen, ledernen Sitz in diesem schrillen Auto und war einfach nur da und unendlich zufrieden.
    Alfred fuhr in Hamburg Eidelstedt, wo Carla wohnte, direkt auf die A 23 Richtung Heide und brauste dann auf den Bundesstraßen 5 und 202 weiter bis nach St. Peter-Ording. Es war halb zehn, als sie das Auto parkten und im Stockdunkeln den endlosen Strand entlanggingen. Carla konnte gar nicht fassen, was jetzt gerade, was heute Abend mit ihr passierte.
    »Ich muss morgen um neun wieder in Hamburg sein«, sagte Alfred. »Aber wir haben die ganze Nacht.« Dass sie morgen früh um halb acht bereits wieder im Kindergarten sein musste, kam ihm offensichtlich gar nicht in den Sinn, und sie sagte es auch nicht. Aber ihr Herz klopfte vor Aufregung bis zum Hals, und sie spürte, wie das Blut hinter ihren Augen pulsierte.
    »Aber wir hätten doch gar nicht so weit fahren müssen. Am Meer ist man schnell von Hamburg aus...«
    »Ich liebe diesen endlosen Strand«, sagte Alfred so leise, dass sie sich konzentrieren musste, um ihn zu verstehen. »Wenn ich hier bin, habe ich das Gefühl, in einem anderen Land und nicht mehr in Deutschland zu sein. Das brauche ich ab und zu.«
    Sie gingen anderthalb Stunden spazieren und sprachen kaum. Äls sie zum Auto zurückkamen, setzten sie sich hinein und sahen aufs Meer hinaus. Es war in der unfassbaren Weite kaum auszumachen, wo noch Strand und wo bereits Meer war.
    Alfred hatte eine Flasche einfachen Rotwein, Mineralwasser und salzige Kräcker dabei. Dazu ein großes Stück griechischen Feta-Käse, das sie auf mindestens 800 Gramm schätzte. Sie aßen und tranken schweigend, und Carla wagte es nicht, die Stille zu durchbrechen, indem sie irgendetwas sagte. Alles erschien ihr zu banal in diesem Moment. Sie wartete darauf, dass er irgendwann den Arm um sie legen oder ihre Hand nehmen würde — aber er tat es nicht.
    Irgendwann begann er zu erzählen, dass er zu Hause das jüngste von fünf Geschwistern war. Sein Vater hatte seine Mutter direkt nach seiner Geburt verlassen und war nach Texas ausgewandert, wo er auf einer riesigen Farm lebte. Vor ein paar Jahren waren seine beiden Schwestern, die Zwillinge Lene und Luise, ebenfalls zu ihrem Vater gezogen. Sie gaben in Amerika
    Deutschunterricht, außerdem gab es auf der Farm viel zu tun, und sie wollten sich um ihren Vater kümmern, wenn er alt wurde. Sein Bruder Heinrich war ein erfolgreicher Gynäkologe in Freiburg und

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