Der Kindersammler
Stunden, und sie musste noch duschen, sich die Haare waschen, irgendetwas zum Anziehen heraussuchen, sich ein bisschen schminken und darüber spekulieren, was er ihr zeigen wollte. Einen Anruf in dieser Art hatte sie nie und nimmer erwartet. Und warum duzte er sie plötzlich? Er kam ihr vor wie ein Pferd, das sich nur widerwillig aus dem Stall ziehen lässt und dann, vor der Stalltür, auf einmal unvermittelt losgaloppiert.
Sie zog sich aus und ging unter die Dusche. Und während sie das warme, weiche Wasser über sich rieseln ließ, überlegte sie, ob sie mit ihm schlafen würde, wenn es darauf hinauslaufen sollte. Darüber wollte sie sich klar werden, damit sie die Entscheidung nicht nachher in Sekundenschnelle treffen musste. Ob sie zu ihm, in seine Wohnung gehen würden? Eine Freundin hatte einmal zu ihr gesagt: »Wenn du mit einem Mann schlafen willst, den du nicht kennst, dann mach es in seiner und nicht in deiner Wohnung. Denn wenn es wirklich so einer sein sollte, der dir was antun will, dann hat er in seiner eigenen Wohnung hinterher die Probleme mit deiner Leiche. In deiner Wohnung macht er sich einfach aus dem Staub. Und das weiß er. Er will dich vielleicht umbringen, aber er will keine Scherereien, und darum bist du in seiner Woh nung sicherer.«
Ja, sie würde mit ihm schlafen. Schließlich hatte das Schicksal ihn geschickt, und sie fühlte sich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Sie wusch sich sorgfältig, cremte nach dem Duschen ihren ganzen Körper ein und nahm ein zartes, aber intensives Parfum, das ihr ihre Schwester vor zwei Jahren mit den Worten geschenkt hatte: »Mauerblümchen brauchen wenigstens starke Duftstoffe, um die Bienen anzulocken.« Und dann benötigte sie über eine Viertelstunde, um zu entscheiden, ob sie einen Slip und einen BH oder nur einen Slip und ein T-Shirt oder einen Body anziehen sollte. Sie entschied sich für den Slip und ein Top mit Spaghetti-Trägern als Unterhemd-Ersatz. Die beiden BHs, die sie besaß und die sie nur äußerst selten, zum Beispiel bei Elternabenden trug, waren schrecklich altbacken, und ein Body war immer eine grässliche Fummelei mit Haken und Ösen. jeder Toilettengang wurde zum Krampf, und wenn man es eilig oder zittrige Finger hatte, schaffte man es überhaupt nicht mehr, die richtigen Haken in die richtigen Ösen zu stecken, während man sich auf einer engen Kneipentoilette das Kreuz verbiegen und bei schummrigem Licht den schwarzen Spitzenstoff nach vorne zerren musste, um vielleicht irgendetwas zu sehen, das man nicht ertasten konnte. Bodys mussten weltfremde und sexualfeindliche Klosterbrüder erfunden haben. Ausziehen funktionierte nur von unten nach oben, was vielleicht bei einem Fahrstuhl-Quicki praktisch, aber ansonsten in einer ersten Nacht ziemlich absurd war.
Darüber zog sie einen beigefarbenen Rollkragenpullover, einen marineblauen Hosenanzug und schwarze, warme Wildlederstiefel, die an den Knöcheln innen und außen Reißverschlüsse hatten. Der Hosenanzug und die Stiefel passten zwar irgendwie nicht zusammen, aber sie konnte es nicht ändern. Sie hatte nichts anderes.
Ihr Make-up, das auch schon drei Jahre alt war, roch bereits ranzig. Sie hatte Angst, von dem verdorbenen Zeug Pickel zu bekommen, und tupfte es nur auf die kritischen Stellen unter den Augen, um nicht wie eine schwindsüchtige Nachteule auszusehen.
Ein Hauch Lidschatten und Wimperntusche ließen ihre Augen leuchten, und sie trug auch einen Lipgloss auf, obwohl sie wusste, dass er nach der ersten halben Stunde oder nach dem ersten Glas Wein verschwunden sein würde.
Die Haare ließ sie offen. Als sie den fünften Kontrollblick in den Spiegel warf und sich zum zehnten Mal mit der Bürste durch die Haare fuhr, klingelte es unten an der Tür.
Sie warf sich ihren flauschigen, braunen Teddymantel über, der zwar alles andere als elegant war, in dem sie aber bisher noch nie und bei keinem Wetter gefroren hatte, und raste die Treppe hinunter.
Er stand vor der Tür mit einem rosafarbenen Chevrolet. Kotflügel und Zierleisten waren dunkelblau. Sie traute ihren Äugen nicht. »Steig ein«, sagte er und grinste.
Sie ging um den Wagen herum, stieg ein, setzte sich und hatte das Gefühl, auf der Straße zu liegen. Als sie die Wagentür zuzog, fuhr er auch schon los.
»Wo fahren wir hin?«, fragte sie.
»Ans Meer«, antwortete er.
Er fuhr schnell. Viel zu schnell, aber sie sagte nichts. Sie sah seine Hand, die lässig und völlig entspannt auf dem Lenkrad lag, und
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