Der Kindersammler
Maßmanns hatten angerufen, dass sie es morgen nicht vor sechzehn Uhr schaffen würden. Wie angenehm. Sie könnte sich jetzt eine halbe Stunde Siesta im Liegestuhl gönnen oder frischen Rucola säen. Es gab so viele Möglichkeiten. Das Leben war einfach wundervoll.
Während Eleonore ins Haus ging, dachte sie, dass sie schon ewig nicht mehr Yoga gemacht hatte, dabei hatte es ihr damals nach ihrer schweren Rückenoperation geholfen, von den Toten aufzuerstehen. Auch die regelmäßigen Meditationen fehlten ihr. Sie hatte einfach zu viel zu tun auf La Pecora, so viel, dass sie noch nicht einmal genug Zeit hatte, auf sich selbst aufzupassen. Jetzt ging es erst einmal darum, Wasser zu trinken, viel Wasser, damit sie ihr tägliches Pensum von fünf Litern noch vor zwanzig Uhr schaffte, bevor sie sich ein Glas Rotwein genehmigen konnte.
Als sie mit der kühlen Wasserflasche im Arm wieder aus der Küche trat, sah sie die fremde Frau vor der Terrasse, die bewegungslos dastand, sie anstarrte und aussah, als sei sie wachen Blicks ohnmächtig geworden.
Eleonore glaubte, mit einem Handkantenschlag eine Ziegelsteinwand zerschlagen zu müssen, als sie fragend »buongiorno« sagte.
Die Frau reagierte nicht. Sie zuckte mit keiner Wimper. Jetzt begann sie langsam, den Kopf zu drehen, ignorierte Eleonore völlig. Eleonore schätzte sie auf Anfang vierzig, aber sie hatte immer noch die Figur einer Dreißigjährigen. Nur die Falten um ihre Augen waren tief und rissig, als habe man sie ihr ins Gesicht gebügelt. Ihre halblangen, welligen Haare schimmerten rötlich. »L'Oreal«, dachte Eleonore, »weil du es dir wert bist. Kastanie-rotbraun. Muss alle vier Wochen neu aufgetragen werden und ist eine gottverdammte Schweinerei. Touristin. Hat sich wahrscheinlich verlaufen. Auf jeden Fall keine Italienerin. Italienerinnen gucken nicht, sie reden sofort drauflos.
»Buongiorno«, sagte die Frau, »schön haben Sie's hier.«
»Hm. Danke. Ich bin Eleonore Prosa, kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Entschuldigen Sie, darf ich mich eventuell einen Moment umschauen ..., ich war vor zehn Jahren zum letzten Mal hier.«
»Möchten Sie ein Glas Wasser?« Eleonore stellte die Flasche auf den Terrassentisch.
»Das wäre furchtbar nett.«
Während Eleonore ins Haus ging, um zwei Gläser zu holen, setzte sich Anne und versuchte herauszufinden, was sich an der Aussicht verändert hatte. Ein ziemlich großer Teil des Eichenwaldes hatte sich in Weinberge und Olivenhaine verwandelt, zwei Ruinen, von denen früher nur die Grundmauern existiert hatten, waren ausgebaut worden, und die Straße zum See erschien ihr jetzt wesentlich breiter. Die Zypressen am Osthang hatten ihre Größe fast verdreifacht, und die Kakteen neben dem Haus waren derartig gewachsen, dass sie jetzt sicher auch den Wildschweinen Respekt einflößten. Bis zu jenem Freitag vor Ostern hatte sie diesen Platz über alles geliebt. Stundenlang konnte sie hier sitzen und vor sich hin dösen und träumen und sich in der Weite der sanften Hügel verlieren, während Harald und Felix unterwegs waren und durch die Wälder zogen, um Tiere zu beobachten, Höhlen zu bauen oder Fische zu fangen im See.
Eleonore kam wieder und stellte Gläser und eine entkorkte Flasche Wein auf den Tisch.
»Falls Sie auch ein Glas Wein mögen.«
Anne lächelte dankbar. Ein großes Glas Wasser und ein klein es Glas Wein — das war jetzt genau das Richtige.
»Ich heiße Anne Golombek«, sagte sie, »und ich war einfach neugierig. Vor zehn Jahren hab ich hier in diesem Haus mit meinem Mann und meinem Sohn Urlaub gemacht. Wir haben jeden Abend auf dieser Terrasse gesessen ..., es ist wie ein Stückchen Heimat für mich.« Was redest du da für einen Scheiß, dachte sie, aber macht ja nichts. Hauptsache, du bist hier.
Und leise fügte sie hinzu: »Es war eine bemerkenswerte Reise. Ich werde sie in meinem ganzen Leben nicht vergessen, aber damals gab es hier noch ein älteres Ehepaar, Pino und Samantha, sie vermieteten einzelne Zimmer und kochten für ihre Gäste. Natürlich nur, wenn man wollte. Hinten, auf der anderen Seite des Hauses, war eine kleine Küche, da konnte man sich auch selbst verpflegen.«
»Hinterm Haus wohne ich jetzt«, sagte Eleonore, »ein Zimmer, Kochnische, Schlafecke, Bad, mehr brauche ich nicht. Und hier vorn das Appartement vermiete ich. Das reicht zum Leben.«
Das möchte ich auch, dachte Anne. Kochnische, Schlafecke, Bad. Und alles hinter sich lassen. Auch die Gespenster der
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