Der Kindersammler
unten am Bach. Er staute den schmalen Flusslauf mit Holz und Steinen, bis kleine Seen entstanden, in denen er Molche züchten wollte.
Anne stand auf der Terrasse und sah den beinah fliegenden Wolken und den schwarzen Wolkenbergen dabei zu, wie sie sich türmten. Schade, sie würden wohl in der Küche essen müssen. Und gleichzeitig dachte sie daran, dass sie jetzt wieder viele Monate lang keine einzige Wolke beobachten, ja nicht einmal bemerken würde. Wetter war im Alltag in Deutschland doch nur der Auslöser für eine Entscheidung in Richtung: warme Jacke, dünne Jacke, Regenjacke, Regenschirm, Wintermantel mit oder ohne Mütze und Handschuhe. Und ständig Autoscheiben kratzen, Gebläse an, bei Regen immer Stau, oder Sonnentage,Verdeck auf, Scheibe runter — Sehnsucht nach der Toscana. Vielleicht mal eine Dampferfahrt mit Felix oder ein Picknick. Im Sommer Freibad. Okay, meinetwegen, geh mit Michael, wenn seine Mutter dabei ist. Aber um acht bist du zu Hause. Und behalte die nasse Badehose nicht an. Tschüss, mein Liebling, hast du den Aufsatz eigentlich schon geschrieben? Okay, aber morgen bestimmt. Versprochen? Großes Ehrenwort.
Das alles erwartete sie, aber sie hatten ja noch diesen Abend. Diesen einen Abend. Zu dritt.
Als das erste Donnergrollen zu hören war, deckte Anne den Tisch in der Küche und stellte sogar ein paar Kerzen dazu. Weihnachten und Neujahr hier zu verbringen — das konnte sie sich auch gut vorstellen, aber da wollten Harald und Felix immer lieber in den Schnee. Felix war jetzt zehn, aber er fuhr seinem Vater bereits auf jeder Piste hinterher, während Anne auf dem Idiotenhügel immer noch den Schneepflug übte.
Harald unterhielt sich mit Pino und Samantha und lachte laut. Er war mit den Zypressen fast fertig. Als er Anne bemerkte, die aus dem hinteren Küchenfenster sah, meinte er, er käme in fünf Minuten. Daraufhin rief Anne Felix. Bis zum Bach war es nicht weit. Sie konnte ihn zwar nicht sehen, weil ihr dichte Büsche und Bäume die Sicht versperrten, aber eigentlich musste er ihr Rufen hören. Normalerweise kam er sofort, wenn man ihn rief, außerdem wusste er, dass das Abendbrot auf dem Tisch stand.
Aber er kam nicht.
An die nächsten Minuten und Stunden erinnerte Anne sich, als wären seither nicht zehn Jahre vergangen, sondern als sei es gestern gewesen. Harald kam mit einem riesigen Osterei um die Hausecke und betrat die Küche.
»Guck mal. Von Samantha und Pino für Felix zu Ostern.«
Das Schokoladenei war so groß wie ein Fußball und in glänzendes, grellbuntes Papier mit goldener Innenseite eingewickelt. Darauf kleine Osterhasen, die zwischen kitschig bunten Fantasieblumen saßen.
Harald grinste. »So ein Monster wird schwer zu verstecken sein, aber es ist lieb von den beiden. — Ich hab übrigens eine Überraschung für dich.«
»Ja?« Anne liebte Überraschungen.
»Die Gäste, die morgen anreisen wollten, kommen nicht. Der Mann hatte einen Schlaganfall. Wir können also noch die Woche über Ostern bleiben, wenn du willst.«
Was für eine Frage! Also doch nicht der letzte Abend. Anne fühlte sich ganz leicht vor Freude.
»So etwas in der Art hatte ich die ganze Zeit gehofft! Fantastisch! Na klar bleiben wir! Und Felix wird sich freuen! Er war so unglücklich, dass wir schon abreisen.« Harald küsste Anne aufs Haar.
»Ich bring dis Monsterei erst mal in unser Schlafzimmer.« Anne ging auf die Terrasse. Der Himmel war jetzt fast schwarz. Es würde jeden Moment anfangen zu regnen.
»Felix!!! Komm nach Hause! Abendbrot!« Sie schrie so laut sie konnte. Er musste es hören, aber es kam keine Antwort. Sie hörte lediglich, dass Pino seinen Fiat Punto startete, und dann rollte der Wagen die Auffahrt hinunter. Offensichtlich hatten die beiden an diesem Abend etwas vor, was selten vorkam.
Anne rief erneut. Noch lauter und anhaltender als vorher. Harald kam nach draußen.
»Ich geh mal gucken, wo er sich rumtreibt.«
Harald lief über die Wiese und verschwand hinter den Büschen am Bach. Das war alles noch nichts Ungewöhnliches, aber Anne spürte, wie ihr Herz heftig zu schlagen begann. Sie spürte das Klopfen im Hals, und ihr Gesicht glühte. Irgendetwas war nicht in Ordnung. Um ihr Zittern und ihre Unruhe zu verber gen, zündete sie sich eine Zigarette an. Die ersten Tropfen fielen. Langsame, schwerfällige, riesige Tropfen, die auf den Holztisch klatschten und kleine Wasserpfützen hinterließen. Harald kam zurück.
»Verdammt noch mal, wo ist der Bengel bloß?
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