Der Kindersammler
Vergangenheit. Allen Ballast abschütteln. Nichts mehr besitzen. Nichts mehr tun müssen. Keine Verantwortung mehr. Nur noch die Freiheit, sich Gutes zu tun oder sich zu zerstören. Endlich abdriften dürfen in die Bewusstlosigkeit.
»Beneidenswert«, sagte sie.
»Aber ganz schön einsam manchmal«, meinte Eleonore. »Normalerweise verirrt sich ja niemand hierher. So wie Sie, meine ich. Jetzt im Sommer, wenn Gäste hier sind, ist es okay, da hab ich genug Abwechslung, da gibt es jede Menge zu tun — aber im Winter? Was macht man da den ganzen Tag? Meistens fahre ich dann doch einige Wochen zurück nach Deutschland.«
»Seit wann sind Sie hier?«
»Seit acht Jahren . Vor sieben Jahren hab ich mich scheiden lassen. Es hatte nichts mit meinem Mann zu tun. Der arme Kerl konnte gar nichts dafür, aber ich wollte raus. Wollte noch einmal in meinem Leben was anderes machen, wollte mir noch mal irgendwas beweisen. Was, weiß ich selbst nicht. Vielleicht, ob ich es mit mir selbst überhaupt aushalte.« Sie grinste breit. »Und ich habe es mittlerweile gelernt zu klempnern, zu mauern, zu tischlern und fühle mich großartig dabei. Denn dieses Haus ist ein einziger Schrotthaufen.«
»So baufällig kam es mir damals gar nicht vor ...«
»Vielleicht, ich weiß es nicht ...« Eleonore zuckte die Achseln. »Pino und Samantha hatten jedenfalls jahrelang nichts dran getan, denn als sie es mir verkauften, war es schon sehr heruntergekommen. Und ich konnte kein Wort Italienisch. Aber durch Zufall habe ich einen deutschen Aussteiger kennen gelernt, der handwerklich sehr geschickt war. Dachte ich jedenfalls. Und der hat es mir hergerichtet. Und jetzt merke ich, dass alles, was er gemacht hat, kalter Kaffee ist. Und ich fange im Grunde wieder von vorne an. Aber es ist schwierig. Wenn ich Cäste habe, kann ich nicht die Terrasse aufreißen, um die Abflussrohre richtig zu verlegen, also muss ich warten bis zum Winter. Und im Winter ist es hier verdammt kalt. Meistens zu kalt zum Bauen.«
Anne nickte. Zu kalt zum Bauen. Und erst recht zu kalt, um in
der Erde zu liegen. Nackt unter nassem oder gefrorenem Laub. Eleonore schenkte nach. Anne trank bereits das dritte Glas
Wein.
»Ich finde das, was Sie machen, bewundernswert.«
»Und Sie?«
»Ich bin vorhin erst angekommen. Will eine Weile hier bleiben, mir vielleicht ein kleines Haus suchen, ein bisschen zur Ruhe kommen.«
»Ganz allein?«
»Ja ...«, Anne lächelte hilflos. »Vielleicht geht es mir so ähnlich wie Ihnen. Mal abwarten, was aus mir wird.«
»Leben Sie auch in Scheidung?«
»Noch nicht direkt, aber es kann sein dass es darauf hinausläuft. Wir brauchen erst mal ein bisschen Abstand.«
»Und Ihr Sohn?«
Anne schüttete das eben eingeschenkte Glas in einem Zug hinunter.
»Der ist erwachsen. Der ist ... nicht da. Ich weiß selbst nicht genau, wo er im Moment ist.« Anne begann zu zittern, Eleonore schrieb es dem Alkohol zu.
Anne hielt ihr ihr Glas hin.
»Dürfte ich vielleicht noch einen kleinen Schluck haben?« Eleonore nickte und goss nach.
»Wo haben Sie denn Ihren Wagen?«
»In Montebenichi. Ich bin hierher gelaufen, weil ich Angst hatte, dass die Straße zu schlecht ist. Aber bis Siena ist es ja nicht weit. Dort habe ich ein Hotelzimmer. Fürs Erste.«
Anne trank das Glas aus. Eleonore sagte gar nichts mehr, sondern sah sie nur an. Was ist mir hier nur für ein komischer Vogel ins Haus geflattert, dachte sie gerade, als Anne langsam aufstand und mit unsicheren Schritten zum Bach hinunterging.
33
La Pecora, Ostern 1994
Es war der Karfreitag 1994 gegen achtzehn Uhr. Für Anne, Harald und Felix war es ihr letzter Abend in der Toscana, und Anne war sich nicht sicher, ob sie draußen essen könnten oder nicht. Sie hatte Mozzarella mit Tomaten und eine scharfe Knoblauchsoße vorbereitet, dazu alle möglichen Kleinigkeiten aus Resten, denn morgen musste der Kühlschrank leer sein. Harald liebte es, wenn es von allem etwas gab, ein paar Bohnen, ein paar Gurken, ein bisschen Lachs, ein paar Scheiben Schinken und Mortadella, ein paar aufgebratene Nudeln, Sedano zum Knabbern und ein halber Primolo, die letzten beiden frischen Cipollini und dazu kühlen Chianti und Cola für Felix. Im Moment zögerte sie noch, alles auf die Terrasse zu tragen, denn im Südosten türmten sich schwarze Gewitterwolken, und sie glaubte auch bereits den leichten Wind zu spüren, der ein Unwetter ankündigte. Harald half Pino hinter dem Haus ein paar Zypressen zu setzen, Felix spielte
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