Der Kindersammler
Verlorenheit. Es gab nichts, was sie wirklich tun musste. Morgen war ihr zweiundvierzigster Geburtstag. Allein in Siena. Ein bisschen fürchtete sie sich davor.
Das Hotel war ein imposanter Palast aus dem 17. Jahrhundert, und das Ambiente gefiel ihr auf Anhieb. Das Zimmer mit Tisch, Bett und einer Kommode aus dunklem Holz war allerdings ziemlich eng. Harald hätte gewusst, ob die Kommode echt oder nachgemacht war, sie wusste es nicht. Über dem Bett hing ein Engelmotiv von William Bouguereau, ein billiger Druck in einem pompösen goldenen Rahmen, der Name des Malers stand in der linken Ecke. Zwei kindliche Engel, die einander umarmten, winzige Flügelchen klebten auf den nackten Schulterblättern, der Engelsjunge küsste das Engelsmädchen auf die Wange, sie ließ es geschehen und blickte betreten zu Boden. Anne nahm das Bild ab und schob es unters Bett.
Sie öffnete das Fenster. Es war ungewöhnlich ruhig, eine hohe Mauer und ein subtropischer Garten hielten die Stadtgeräusche ab, es roch nach Lavendel und Rosmarin. Einen Fernseher gab es im Zimmer nicht, nur eine vom Hotel zentral gesteuerte Radioanlage mit einem einzigen Programm und plärrender Tonqualität. Ein Radiomoderator und ein Telefonkandidat schrien sich gerade an und lachten dabei, sie schaltete sofort wieder ab.
Die Dusche war frauenfeindlich. Ein fest installierter Duschkopf unter der Decke, der das Wasser wie eine Blumenspritze fein zerstäubte. Keine Chance, sich hier vernünftig zu duschen und zu waschen. Auch aus dem 17. Jahrhundert, dachte sie, und hatte das Gefühl, überhaupt kein Wasser auf ihrem Körper zu spüren. Dennoch fühlte sie sich danach etwas frischer. Sie schminkte sich sorgfältig und verließ das Hotel.
Auf dem Weg zum Auto piepte ihr Handy einmal kurz. Eine SMS. »Lass von dir hören, wenn du gut angekommen bist. Oma«. Immer noch sagte sie »Oma«. Immer noch. Als wäre nichts passiert, dachte sie gereizt. Allerdings war ihre Mutter einer der wenigen Menschen über siebzig, die in der Lage waren, eine SMS abzuschicken. Aber was dachte sie sich dabei? Sollte sie jetzt zurückrufen und sich anhören, was es zum Mittagessen geben würde? Warum hatte ihre Mutter nicht einfach kurz angerufen, statt eine SMS zu schicken?
Die Telefonate aus Deutschland waren wesentlich billiger als umgekehrt.
Anne setzte sich auf die Brüstung der Stadtmauer und tippte »Bin gut angekommen. Grüße Anne« in ihr Handy und schickte die SMS los.
Dann ging sie weiter. Die Straßen wirkten wie ausgestorben, die Fensterläden waren jetzt in der Mittagshitze alle geschlossen. Den winzigen kleinen Imbiss bemerkte sie erst, als sie schon daran vorbeigegangen war. Sie kaufte sich eine viertel Pizza für zwei Euro fünfzig und aß sie langsam im Schatten eines Feigenbaums, der hinter einem Mauervorsprung wuchs.
Nach dem Essen fühlte sie sich satt und zufrieden. Sie streckte die Beine auf den warmen Steinen aus und schloss einen Moment die Augen. Harald hatte sie zum Abschied noch nicht einmal in den Arm genommen. »Du musst wissen, was du tust«, hatte er gesagt und war ins Haus gegangen.
Anne saß im Auto und wartete noch fünf Minuten, aber er kam nicht wieder heraus. Schließlich fuhr sie los. Sie fühlte sich hundeelend, hatte ein schlechtes Gewissen und das Gefühl, wieder einmal alles falsch gemacht zu haben. Erst dreihundert Kilometer später keimte in ihr der Verdacht, dass es Harald bewusst darauf angelegt haben könnte, sie zu verunsichern.
Anne öffnete die Augen und stand auf. Allmählich fühlte sie sich stark genug, an den Ort zu fahren, wo vor zehn Jahren das Unfassbare geschehen war.
32
Eleonore Prosa hatte einen Namen, den die Italiener wenigstens aussprechen und schreiben konnten, wofür sie gelegentlich direkt dankbar war. Sie hatte vor acht Jahren nach achtundzwanzig Jahren Ehe ihren Mann verlassen und beschlossen, ihr Erspartes im Süden anzulegen. Sie war groß und zäh und knochig und schwitzte nie. Gerade hatte sie zwei Stunden Holz gesägt, bis die Sägemaschine qualmte, jetzt stemmte sie die Hände in die Hüften und überlegte, was als Nächstes zu tun sei. Sie atmete tief ein und geräuschvoll aus und meinte, sich erst einmal ein Glas Wasser genehmigen zu wollen. Seit sie vor vier Jahren beschlossen hatte, gut zu sich zu sein, »genehmigte« sie sich alles, was sie aß oder trank.
Die Bettwäsche in der Ferienwohnung musste noch gewechselt und die Küchenhandtücher mussten gebügelt werden, doch das hatte Zeit.
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