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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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Hat er denn seine Uhr nicht um?«
    »Natürlich hat er seine Uhr um! Und außerdem hat er Angst vor Gewitter! Ich versteh nicht, warum er nicht nach Hause kommt.« Aus irgendeinem Grunde wollte Anne nicht, dass Harald merkte, wie sie zitterte.
    Harald griff sein Handy. »Ich geh mal runter zum See. Wenn er kommt, ruf mich an.«
    Bis zum See war es zu Fuß etwa eine Viertelstunde. Anne und Harald hatten Felix nicht erlaubt, am See zu spielen, und zu baden schon gar nicht, denn im See gab es gefährliche Strudel, die einen Schwimmer in die Tiefe ziehen konnten.
    Harald lief los. Mit schnellen, langen, energischen Schritten. Seine Sorge machte ihn wütend. Anne ging ins Haus und blieb am Küchenfenster stehen. Es regnete jetzt heftiger, dazu kam ein kalter Wind auf. In der Ferne hörte sie es donnern. Gott sei Dank war das Gewitter noch nicht direkt über dem Haus. Sie fröstelte, zog sich eine Jacke an und rauchte die nächste Zigarette, während sie das Handy hypnotisierte. Bitte ruf an und sag, dass du ihn gefunden hast. Bitte, bitte.
    Das Handy klingelte. Anne sah auf dem Display sofort, dass es nicht Harald war. »Rufnummer unterdrückt« kam wahrscheinlich aus Deutschland.
    »Ja, hallo?« Annes Stimme klang unterkühlt, sie wollte jetzt nicht telefonieren, und natürlich war es ihre Mutter.
    »Ja, es ist alles in Ordnung, es geht uns gut, alles prima.« — »Nein, es gibt eigentlich nichts Neues.« — »Ach doch, das hätte ich beinah vergessen, wir bleiben noch eine Woche länger.« — »Ja, weil Gäste abgesprungen sind.« — »Und wie geht's euch?« — »Na, dann ist ja alles bestens.« — »Nein, weil ich einfach nicht weiß, was ich jetzt noch sagen soll. Wir können ja morgen wieder telefonieren.
    Oder Ostern. Ja, lass uns Sonntagvormittag telefonieren.« — »Ja, wünsch ich dir auch. Und grüß Papa. Ciao.« — »Ja, ja, natürlich. Ciao. Mach's gut. Ciao.« Sie legte auf.
    Warum konnte sie ihrer Mutter nicht sagen, dass sie Herzschmerzen hatte vor Angst, dass sie das Gefühl hatte, die Luft anhalten zu müssen, weil das Leben stillsteht, wenn einer fehlt? Sie fürchtete, dass ihre Mutter ihren entsetzt besorgten Ton anschlagen und tausend Fragen stellen würde. Fragen, die keine wirklichen Fragen waren, sondern versteckte Vorwürfe. Fragen, auf die sie gar keine Antwort hören wollte. Das konnte sie nicht ertragen.
    Anne sah auf die Uhr. Harald war erst sieben Minuten weg. Eine halbe Stunde würde er auf alle Fälle für Hin- und Rückweg brauchen. Vielleicht ging er sogar um den See. Das würde noch einmal eine Dreiviertelstunde dauern. Sie hatte das Gefühl, diese lange Zeit niemals durchzustehen, nahm eine Zeitung, schlug sie auf und wieder zu. Wischte mit einem feuchten Lappen über die Arbeitsplatte. Wusch ein Messer ab, das herumlag. Stellte den Mozza rella wieder in den Kühlschrank. Sah aus dem Fenster. Es schüttete. Der Himmel war grau vor Wasser. Sie konnte die Büsche am Bach kaum noch erkennen. Vielleicht hatte sich Felix irgendwo untergestellt, weil er nicht durch den Regen laufen wollte. Wo stellte man sich unter im Wald? Am Bach? Auf der Wiese?
    Im Dorf war er sicher nicht. Dort gab es kein Geschäft, noch nicht mal eine kleine Bar. Was sollte er da? Zu Fuß brauchte man mindestens eine Dreiviertelstunde. Nein, im Dorf konnte er nicht sein. Aber wo war er dann, zum Teufel? War er einem Tier hinterhergerannt? Einer Katze? Einem kleinen Hund? Hatte er sich verlaufen? In einer Stunde würde es dunkel sein. Oh, mein Gott! Und die Nächte waren kalt, jetzt im April.
    Harald war inzwischen elf Minuten weg.
    Sie versuchte sich zu erinnern, was Felix anhatte. Das blaue Sweatshirt? Nein, das hatte er gestern angehabt. Oder war er nur im T-Shirt unterwegs? Das weiße mit Goofy, oder das braune mit dem Eiffelturm, das sie im Herbst aus
    Paris mitgebracht hatten? Es war zum Wahnsinnigwerden, sie wusste noch nicht mal, was er anhatte!
    Jetzt ganz ruhig bleiben. Bloß keine Panik. Harald würde ihn schon finden. Harald schaffte das. In ein paar Minuten würden die beiden den Weg heraufkommen, klatschnass, Hand in Hand. Felix war doch noch so klein, mit schrecklich dünnen Armen und Beinen und ganz zarter Babyhaut im Gesicht. Das weiche, glatte hellblonde Haar, das ihm immer in die Augen fiel und das sie jetzt nicht mehr schneiden durfte. Er meinte, er sei allmählich alt genug, zum Friseur zu gehen. Mein Engel, dachte sie, mein Engelskind. Beinah durchsichtig und so unendlich

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