Der Kindersammler
lassen, die Anfahrt erleben, den Garten sehen, den Blick genießen. Dann muss man davorstehen und die Atmosphäre spüren. Und die erlebt jeder ganz unterschiedlich. Meist ist es sogar davon unabhängig, ob das Haus renoviert ist oder nicht, und meist ist es auch ganz anders, als man es sich zu Hause in Deutschland vorgestellt hat. Man muss einfach davorstehen und sich verlieben. Sich von dem Haus angezogen fühlen und es nicht mehr aus seinen Gedanken verbannen können. Es muss Sehnsüchte wecken. Begehrlichkeiten. Selbst wenn sie total irreal sind. Und dann wird man tief einatmen und denken, mein Gott, ich muss es haben, oder ich sterbe. Dann interessiert nicht mehr, ob auf dem Dach drei Ziegeln fehlen oder die Badezimmerfliesen die falsche Farbe haben.« Er sah in den Rückspiegel und drosselte das Tempo, weil er überholt wurde.
»Es ist wie in der Liebe. Ich habe von Leuten gehört, die erst nach zehn Jahren Ehe bemerkten, dass ihr Partner eine schiefe Nase hat. Das sahen sie nämlich erst, als die Liebe erkaltet war.« Jetzt wagte er einen Seitenblick. Sie sah stur geradeaus. Ihr Gesichtsausdruck war unergründlich.
»Und aus diesem Grund fahre ich mit meinen Kunden herum und zeige ihnen lieber ein Objekt zu viel. Sie bekommen dadurch einen Gesamteindruck und haben nicht das Gefühl, etwas verpasst oder übersehen zu haben.«
Anne nickte. »Hört sich ziemlich idealistisch an.«
»Wenn Sie hier leben, werden Sie entweder zum Idealisten, oder Sie gehen zurück nach Deutschland. Wenn man das Land liebt, will man, dass es auch alle anderen sehen und lieben lernen. Hier zu makeln ist für mich kein Business. Kein Stadtjob, bei dem man sich abends beim Champagner vor Geschäftsfreunden brüstet, hej, heute lief es bestens, ich habe drei Eigentumswohnungen und ein Mietshaus verkauft. Meine Arbeit hier ist dagegen — tja, wie soll man das ausdrücken — vielleicht wie eine Mission.«
»Irgendwie gefällt mir das, was Sie sagen.«
Allmählich hörten die baumlosen Hügel auf und waren nun von dichten Wäldern bedeckt.
»Hier kenne ich die Gegend«, sagte Anne. »Vor zehn Jahren habe ich hier mal Urlaub gemacht.«
»Und es hat Ihnen so gut gefallen, dass Sie jetzt unbedingt zurückkehren wollen?«
Anne zögerte. »So ungefähr.«
Er war überrascht, fragte aber nicht nach. Als er weitersprach, redete er mehr zu sich selbst als zu ihr.
»Hier ist die Gegend lieblicher, aber auch wilder, ungebändigter. Hier darf noch wachsen, was wachsen will. Die klaren Konturen gehen verloren, aber der Mensch fühlt sich heimeliger. Es ist eine Landschaft zum Wohlfühlen und Leben, es ist nicht das Vegetieren in einem Markenzeichen, das Zur-Schau-Stellen< einer Kultur, sondern ein >vivere e lasciar vivere<, leben und leben lassen< in der Wildnis mit dem möglichen Rückgriff auf die Zivilisation, den
Luxus und alle Annehmlichkeiten, die man braucht. In den Wäldern lebt es sich geschützter und versteckter, aber auch einsamer. Und bis auf die einzelnen Podere ist die Landschaft austauschbarer geworden. Diesen Eichenwald finden Sie auch in Deutschland, die Crete nicht.«
»Das stimmt. Aber ich liebe die bewaldete Toscana mehr als die rasierte.«
Er musste lachen und fuhr gerade in den Ort Ambra, der Mittelpunkt des Tales war und alles zu bieten hatte, was die Einwohner brauchten: eine Post, eine Bank, einen Bäcker, eine Apotheke, drei Lebensmittelgeschäfte, zwei Bars, einen Schuhladen, einen Blumenladen, einen Eisenwarenladen, eine chemische Reinigung, einen Fleischer, eine Arztpraxis, eine Schule, drei Kirchen und ein Kino.
Mit Mühe durchquerte er die Piazza die wie immer hoffnungslos zugeparkt war, und bog nach links ab in Richtung Cennina, ein kleines Bergdorf, das zwar über eine asphaltierte, aber sehr schmale und kurvige Straße zu erreichen war.
Anne lehnte sich zurück. Cennina. Cenau. Dort waren sie damals zu einem Sommerkonzert gegangen, das erst abends um einundzwanzig Uhr begann. Felix war im Haus geblieben und hatte sich um einen kleinen Vogel gekümmert, den er mit gebrochenem Flügel im Gebüsch gefunden hatte. Er hatte ihm mit einem Eierlöffel Wasser gegeben und versuchte, ihm selbst gefangene und zerhackte Regenwürmer in den Schnabel zu stopfen. Aber der Vogel lehnte es ab, irgendetwas zu sich zu nehmen. Er sperrte den Schnabel nicht einmal auf. Dann fand Felix im Kühlschrank Reste von Polenta, die sie zu Mittag gegessen hatten, und das schien die Leibspeise des Vogels zu sein. Er piepte laut,
Weitere Kostenlose Bücher