Der Kindersammler
anders erwartet.
37
Als sie erwachte, war es Viertel vor sieben. Ihr Kopf war klar, aber ihr Mund war völlig ausgetrocknet, und sie hatte einen Heißhunger auf Schokolade. Im Bad trank sie direkt aus der Wasserleitung, wählte einen extrem roten und extrem auffälligen Lippenstift und ging los.
Es war die angenehmste Tageszeit in der Stadt. Alle Geschäfte waren geöffnet, die Sienesen erledigten jetzt ihre Einkäufe in winzigen Alimentariläden, Touristen bummelten durch die Straßen, Vespas und Fiats hupten um die Wette, die Abendsonne war mild und nicht mehr zu heiß.
Anne überlegte, ob sie sich vielleicht einen Moment in den Dom setzen sollte, aber dann entschied sie sich dagegen. Es zog sie mehr auf den Campo.
Auf dem Campo war viel Betrieb. Jugendliche saßen und lagen auf den heißen Steinen, spielten Gitarre, hörten Musik oder umarmten sich. In den Restaurants und Cafe s rund um den Platz waren alle Tische besetzt, aber Anne hatte Glück, fand einen freien Platz und setzte sich zu einem Rentnerehepaar. Sie bestellte einen Tee und ein Stück Obstkuchen mit zentimeterdicker, bunter Gelatine, wie ein künstlicher Pudding direkt aus der Plastikfabrik. Sie überlegte, ob man ihr vielleicht aus Versehen die Schaufensterdekoration gebracht hatte, aber der Kuchen war essbar und schmeckte fürchterlich. Sie hatte keine Lust, mit dem Rentnerpaar ein Gespräch anzufangen, und auch die beiden schienen sich nicht für sie zu interessieren. Sie sprachen deutsch und waren vollauf damit beschäftigt, in ihre Kamera einen neuen Film einzulegen, was aber nicht funktionierte, da der Apparat den Film nicht transportierte.
»Jetzt sind wir einmal im Leben hier und dann so was ...«, flüsterte die Frau, als habe sie Angst, gleich ein heiliges Donnerwetter abzubekommen, denn ihr Mann hatte bereits einen hochroten Kopf. Und wahrhaftig.
»Ich schmeiße das Scheißding gleich in den nächsten Mülleimer«, schimpfte er. »Ich wollte den Apparat ja auch nicht kaufen. Ich wollte eine Yashica.«
Die Frau war den Tränen nahe. »Jetzt bin ich also schuld.« »Das hab ich nicht gesagt«, brüllte er.
»Aber gemeint«, hauchte sie.
Anne atmete tief durch und seufzte dabei, obwohl sie das eigentlich nicht gewollt hatte, und machte die Unhöflichkeit gleich mit einem Lächeln wett.
»Sie dürfen den Film nicht so weit rausziehen, dann fasst er nicht mehr. Haben Sie noch einen dabei?« Die Frau nickte und durchwühlte ihre
Handtasche. In ihren Augen lag die ganze Hoffnung dieser Welt, als sie ihn Anne gab, was diese irgendwie übertrieben und deplatziert fand.
Anne legte den Film ein. »So. Jetzt müsste es funktionieren. Soll ich Sie fotografieren?«
»0 ja!« Beide lächelten wie auf Bestellung derart glücklich in die Kamera, als feierten sie ihren Hochzeitstag. Anne drückte auf den Auslöser und gab die Kamera zurück.
»Das war ganz, ganz lieb von Ihnen«, sagte die Frau. Den Seitenhieb zu ihrem Mann konnte sie sich allerdings nicht verkneifen. »Und du wolltest den Apparat schon wegschmeißen!«
Der Mann sagte nichts dazu aber seine Gesichtsfarbe war wieder normal. Er stand auf und ging zur Toilette.
Anne zündete sich eine Zigarette an und wich dem Blick der Frau bewusst aus. Sag jetzt nichts, dachte sie, bitte, halte die Klappe. Ich möchte meine Ruhe haben.
»Sind Sie auf Urlaub?«, fragte die Frau.
Mein Gott, was für ein scheußlicher Dialekt, was für ein abartiges Deutsch. Und genau so eine blöde Frage hatte sie befürchtet, als sie den Film einlegte.
»Ja«, sagte sie und blies den Rauch haarscharf am Kopf der alten Dame vorbei. »Mit meinem Mann und meinen drei Kindern. Heute hat Mama mal frei, und Papa kümmert sich um alles.«
»Ach Gott, wie nett.«
»Ja.«
Ein Himmelreich für eine Illustrierte, aber sie hatte nichts dabei. Noch nicht einmal einen Notizblock in ihrer Handtasche, mit dem man intensives Nachdenken und wichtiges Notieren vorspielen konnte.
»Wir sind auch auf Urlaub. Es ist ja einfach herrlich hier. Ganz wunderschön.«
»Ja«, sagte Anne.
Der Mann kam vom Klo zurück. »Lass uns gehen, Ilse«, meinte er. »Du wolltest doch noch fotografieren.«
Die Frau stand auf. »Hast du schon bezahlt?«
»Ja, eben, drinnen an der Bar.«
Die beiden griffen ihre Taschen und Tüten und schoben sich durch die Tischreihen.
»Wiedersehen«, rief die Frau, und Anne nickte nur.
Etwa zehn Minuten später kam der Kellner und erkundigte sich auf Englisch, wo die beiden Herrschaften geblieben
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