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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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ein Stück Parmesankäse. Und setzte sich. Anne aß dankbar ein Stückchen Käse.
    Es war bereits Viertel nach elf, als sie zurück zum Hotel kam. Sie fand auf Anhieb einen Parkplatz ganz in der Nähe. Das warme gelbe Licht der Straßenlaternen schuf eine behagliche Atmosphäre in der Stadt, die hier, wo es keine Restaurants und Geschäfte gab, bereits ruhig und verschlafen wirkte. Eine alte Frau hastete nach Hause, ein Liebespaar schlenderte scheinbar ziellos aber ineinander verschlungen und leise murmelnd in Richtung Campo. Anne trat zur Seite, denn ein alter Fiat Cinquecento quälte sich die ansteigende Straße hinauf und hielt vor einem düsteren Haus, das aussah, als wäre es seit Jahren nicht mehr bewohnt. Ein alter Mann stieg mühsam aus dem winzigen Auto. Er trug einen Hut, wie ihn Annes Großvater getragen hatte, wenn er vormittags mit dem Hund zum Markt ging. Anne dachte an ihren Großvater und an das kleine Papiertütchen mit bunten Gummiteufeln, die sie so gerne gelutscht und die er ihr immer mitgebracht hatte. Und der Gedanke machte sie traurig. Weil das alles vorbei war. Sie hatte das Gefühl, alles Erlebte verloren zu haben. Und jetzt ging sie in einer warmen Sommernacht durch das nächtliche Siena und fühlte sich wie eine fabrikneue Festplatte, auf der noch keine einzige Datei abgespeichert war.
    Der Mann schloss eine wuchtige schwere Holztür auf und verschwand in dem halb verfallenen Haus. Die Fensterläden blieben geschlossen, von draußen sah man kein Licht. Noch nicht einmal einen kleinen Schimmer.
    Anne war müde. Todmüde. Langsam und schwerfällig betrat sie das Hotel, als wäre sie betrunken und bemüht, keinen Fehler zu machen, nicht danebenzutreten und nicht aufzufallen. Die Signora an der Rezeption reichte ihr lächelnd den Zimmerschlüssel, noch bevor sie danach fragen konnte. Anne war dankbar dafür, war dankbar für jedes Wort, das sie heute Abend nicht mehr sagen musste.
    Ihr kleines Zimmer im ersten Stock kam ihr vor wie ein friedliches Nest, außerhalb jeder Gefahr. Sie zog die Schuhe aus, ging zum Fenster und öffnete es weit. Dann löschte sie das Licht, zog sich aus, kroch mühsam unter die Decke, die unter der Matratze viel zu straff und viel zu fest eingeklemmt war, und schlief sofort ein.
    Es war die Nacht zum 21. Juni.
    35
    »Einen kleinen Moment«, sagte Monica Benedetti lächelnd und deutete auf eine Sitzecke am Fenster. »Möchten Sie sich nicht ein paar Minuten setzen?« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Herr Gregori kommt sicher jeden Augenblick.«
    Anne setzte sich. Sie hatte in der Nacht tief und fest geschlafen und war froh, nichts geträumt zu haben. Als sie aufwachte, war es im Zimmer noch kühl, aber die Zikaden zirpten schon im Garten und verursachten in ihren Gedanken ein betörendes Glücksgefühl. Es war Sommer. Richtig Sommer. Heute, morgen und übermorgen. Und nächste Woche. Nicht nur zwei Tage, wie in Deutschland, und dann wurde es wieder herbstlich kühl und nass. Nein. Sie hatte Geburtstag, und der ganze Sommer lag noch vor ihr. Happy birthday, Anne. Besser konnte man ein neues Leben gar nicht beginnen.
    Das Frühstück wurde auf einer schattigen Terrasse serviert, über die sich die dichten Zweige mehrerer Kiwibäume rankten. Unter einer Pinie im Garten sah sie von ihrem Platz aus die lebensgroße und im Laufe der Jahre grünlich gewordene Steinfigur einer Frau mit entblößter Brust, die mit der einen Hand die Falten ihres Rockes raffte und in der anderen einen Apfel hielt, den sie nachdenklich und versonnen lächelnd betrachtete. Ein Bildnis wie aus einer anderen Welt, einer anderen Zeit.
    Der Cappuccino war ein Gedicht. Anne konnte sich nicht erinnern, schon jemals einen so guten Kaffee getrunken zu haben. Dazu ein Glas kühles Wasser und eine mit Pudding gefüllte Zuckerschnecke. Italienisches Frühstück.
    Anne sah sich um. Ein derartig hypermodemes Büro hatte sie hinter der verwitterten mittelalterlichen Fassade des Hauses gar nicht erwartet. Funktionell, streng und kühl. Zum Erfrieren, wenn man hier arbeiten musste. Und lediglich zwei Bilder an der Wand. Das eine zeigte ein weites Sonnenblumenfeld, dahinter geduckt und von den Blumen fast verschluckt eine kleine Hütte, toscanarot gestrichen. Das andere zeigte die weiten baumlosen Hügel der Grete im diffusen, von Nebelschleiern durchzogenen Licht des frü hen Morgens, die Landschaft in zarten Pastelltönen verschwimmend, auf einem der Hügel ein Haus, vier Cypressen als Windschutz an einer Seite,

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