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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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lauschten in die Stille. Ob auf dem Kies ein Schritt zu hören war, ob sich eine Tür leise öffnete, ob sie ihn rufen hörten. Sie sagten kein Wort und horchten. Es war unerträglich. Sie wünschten sich, wenigstens ein Auto zu hören, Straßenlärm, das Brummen eines Flugzeugs, irgendetwas ..., das wäre etwas Lebendiges gewesen, aber sie saßen stumm wie in einer schalldichten Zelle, und da war nichts mehr. Der Regen hatte aufgehört, es war vollkommen windstill. Noch nicht einmal das Käuzchen schrie. Zeitweise dachte Anne, sie wäre taub geworden, diese Stille gäbe es nur in ihrem Kopf, sie hätte die Verbindung zur Außenwelt verloren, aber dann stand Harald auf, ging zum Waschbecken und spritzte sich eiskaltes Wasser ins Gesicht. Anne hörte das fließende Wasser und wusste, es lag nicht an ihr, da draußen war alles tot.
    Als die Sonne aufging, ging Harald wieder hinaus und suchte weiter. Anne kochte sich einen Cappuccino und wusste nicht, wie sie den Tag überstehen sollte. Kurz darauf kamen die Carabinieri, und dann wurde ihre Angst von einem nervtötenden, aber gleichzeitig auch ein wellig tröstenden Aktionismus überlagert. Die Carabinieri fuhren die Waldwege ab, eine Hundestaffel durch kämmte das Gelände, Taucher durchsuchten den See. Anne wusste nicht mehr, was sie wollte. Hoffte, dass sie ihn fanden, und hoffte gleichzeitig, dass sie ihn nicht fanden. Sie wollte wissen, was mit ihm los war, aber wiederum wollte sie auch nicht wissen, was mit ihm los war, um sich die Hoffnung nicht zu nehmen. Und obwohl sie jede Ecke ihres Gehirns durchforstete und ihr Unterbewusstsein, ihre Intuition, ihre Instinkte und Ahnungen zu aktivieren versuchte, war da absolut keine Vision eines unversehrten kleinen Jungen, der unter einem Olivenbaum, geschützt vor einer verwitterten Mauer übernachtet hatte, weil er sich vielleicht den Fuß gebrochen hatte und nicht mehr nach Hause laufen konnte. Da kam kein Bild. Da war nichts. Und sie musste sich eingestehen, dass ihre Hoffnung bereits gestorben war.
    Don Matteo, der Dorfpfarrer, kam. Er hatte schwere Arbeitsstiefel an, eine lehmverkrustete Cordhose, ein gestreiftes Hemd und darüber eine Armeeweste mit vielen Taschen, in denen er seine sämtlichen Habseligkeiten aufbewahrte.
    Offensichtlich kam er direkt vom Feld. Er setzte sich zu Anne, nahm ihre Hand und redete mit ihr. Sie verstand nicht, was er sagte, aber dann betete er, und das tat gut. Sie musste ihm nicht antworten, sie musste nichts erklären, er saß einfach nur neben ihr, einfach nur so.
    Anne und Harald blieben nicht nur über Ostern, sondern noch zwei weitere Wochen in diesem Haus. Die Carabinieri suchten drei Tage lang, dann stellten sie die Suche ein. Harald verließ jeden Morgen bei Sonnenaufgang das Haus und kam abends erst in der Dunkelheit wieder. Er hörte nicht auf, ihn zu suchen. Und Anne saß in der Küche oder auf der Terrasse und wartete. Sie tat nichts. Sie war einfach nur da. Las nichts, hörte kein Radio, ging nirgend wohin. Ihr Verstand hatte sich ausgeschaltet. Sie merkte nicht mehr, ob die Zeit verging oder ob sie stehen blieb. Sie hatte jegliches Gefühl dafür verloren, ob fünf Stunden oder fünfzehn Minuten vergangen waren. Sie war wie erloschen. In ihr war alles tot. Wattig und dumpf. Sie fühlte nichts mehr. Auch keinen Schmerz. Ab und zu stellte sie sich vor, dass die Tür aufgehen und Felix ein fach dastehen würde. Grinsend.
    »Hei, Mama, was gibt's 'n zu essen?«
    Anne wusste, es hätte keinen schöneren Satz geben können. In ihrem ganzen Leben nicht. Aber sie hörte diesen Satz nie wieder.
    34
    La Pecora, Juni 2004
    Als Anne zurückkam, war sie leichenblass. Eleonore sah sie besorgt an.
    »Geht es Ihnen nicht gut?«
    »Doch, doch, aber ich hab den Wein zu schnell getrunken und nichts im Magen ... «
    Eleonore lächelte und stand auf.
    »Ich mache uns was zu essen.«
    Sie ging in die Küche, Anne blieb auf der Terrasse und blickte in die Ferne. Ein paar Möwen schrien am Himmel, obwohl die hier eigentlich nichts zu suchen hatten. Das Meer war viel zu weit weg. Wahrscheinlich haben wir Seewind, dachte sie, aber wen interessiert das. Meinetwegen kann ein Sandsturm dieses Land mit einer meterdicken Staubschicht überziehen, bis alles verschwunden ist, jeder Olivenbaum, jeder Weinstock, jedes Haus. Ich habe aufgehört, mich dafür zu interessieren. Seit jenem Karfreitag vor zehn Jahren hat die Welt aufgehört, sich zu drehen.
    Eleonore brachte etwas Brot, eine Schale mit Oliven und

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