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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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wenn Felix sich mit der Polenta näherte, und sperrte den Schnabel so weit auf, dass sein offener Schlund größer schien als der ganze Kopf. Und Felix stopfte und stopfte.
    Als sie nach dem Konzert in Cennina nach Hause kamen, schien der Vogel zu schlafen. Felix wiegte ihn in seiner Hand, flüsterte ihm beruhigende Worte zu und war ganz glücklich. Sie konnten ihn dazu bringen, den Vogel in einen mit Moos ausgestopften Schuhkarton zu legen und dort übernachten zu lassen.
    Am nächsten Morgen war der Vogel tot. Geplatzt. Die Unmengen von Polenta waren in seinem kleinen Magen gequollen und hatten ihn zerrissen. Harald und Felix begruben ihn. Harald gab sich Mühe, eine möglichst würdige Zeremonie daraus zu machen, und setzte ihm einen Stein. Noch drei Tage lang brach Felix unvermittelt in Tränen aus, wenn er daran dachte.
    Seitdem hatten sie nie wieder Polenta gegessen.
    Hinter Cennina begann die kurvenreiche Schotterstraße, für die ein Jeep aber noch nicht unbedingt obligatorisch war. Allerdings waren die Serpentinen derartig eng, dass Kai einige Male hin und her rangieren musste, um die Kurve überhaupt zu schaffen. Schließlich erreichten sie Solata. Der Ort machte einen vernachlässigten und verfallenen Eindruck, obwohl er ganz offensichtlich be wohnt war. Eine Hundemeute stürzte sich wild kläffend und bellend auf den Wagen, aber Kai scherte sich nicht darum, sondern fuhr einfach weiter, obwohl die Hunde versuchten, in die Reifen zu beißen.
    Nach ungefähr zehn Minuten Fahrt durch Oliven- und Maronenwälder erreichten sie eine Ruine. Ein großes, U-förmiges Anwesen auf einem Hügel mit einer herrlichen Aussicht über das weite Valdarno bis hin zum Prato Magno, das hohe Gebirge, das Umbrien von der Toscana trennt.
    Anne stieg aus dem Wagen und sah sich entsetzt um.
    »Was soll das?«, fragte sie. »Warum zeigen Sie mir eine riesige Ruine, in der genug Platz für sechs Appartements wäre und für die ich zwei Millionen Euro bräuchte, um sie wieder aufzubauen, mal ganz abgesehen von der Zeit und dem Ärger mit den Handwerkern?«
    »Vergessen Sie mal die Ruine«, sagte Kai. »Mir geht es um den Platz. Gefällt er Ihnen? Die Lage? Der Blick? Die Entfernung zum nächsten Ort?«
    Anne ging langsam um die Ruine herum, was wegen des wuchernden Brombeergestrüpps nicht einfach war.
    »Nein«, sagte sie nach einer Weile. »Der Blick über das Valdarno-Tal ist mir zu weit. Zu anonym. Da sehe ich nicht jeden Morgen nach dem Aufwachen >meinen Wall< >meinen Hügel<, >mein Dorf< >meine Kapelle<, die mir vertraut sind, sondern eigentlich nichts. Namenlose Gegend. Die Häuser und Straßen sind so weit entfernt, dass ich sie nicht mal mehr ausmachen kann. Ich gehe verloren in diesem Blick. Wahrscheinlich ist das Tal in der Nacht mit Lichtern übersät, die Zivilisation ist scheinbar so nah und macht mich noch einsamer, als wenn ich auf einen dunklen Wald starre, in dem kein einziges Licht leuchtet.«
    Sie drehte sich um die eigene Achse, breitete die Arme aus und lachte. »Ich stehe hier oben und präsentiere mich der ganzen Welt. Jeder kann mich beobachten. Vom Weg aus würde man sehen, ob ich esse oder im Liegestuhl liege, ob ich im Haus bin oder im Garten arbeite, ich wäre hier öffentlicher als in der Stadt. Ich müsste Bäume und Hecken pflanzen, um mich zu schützen, vor die Fenster würde ich Gardinen hängen. Und das will ich alles nicht.«
    »Und der Ort?«
    Sie überlegte einen Moment. »Ja, ich glaube, auch der Ort ist zu weit weg. Ich will keinen Nachbarn, der sich aufregt, wenn mein Radio zu laut ist, aber ich will auch nicht zu Fuß eine Stunde unterwegs sein, bis ich den nächsten Menschen treffe.«
    Kai lächelte und öffnete die Wagentür. »Na also. Jetzt weiß ich doch schon wesentlich besser, was Sie suchen. Steigen Sie ein. Was halten Sie davon, wenn wir jetzt erst mal etwas essen gehen? Ich kenne in der Nähe eine kleine
    Osteria mit einfachem, aber sehr gutem Essen. Sie wird Ihnen gefallen. Und dann zeige ich Ihnen das Haus Ihrer Träume.«
    Anne stieg ein. »Fantastisch. Aber ich lade Sie ein. Ich habe heute nämlich Geburtstag.«
    36
    Sie sahen sich an diesem Tag keine Immobilie mehr an, sondern versackten in einer kleinen Osteria in Castelnuovo Berardenga am Ortsausgang. Äm Anfang waren sie sehr höflich zueinander, aßen ein paar Crostini als Vorspeise und sprachen über Immobilien. Anne hatte das Gefühl, sich zu wiederholen, das hatte sie alles auch schon im Büro erzählt, Gregori musste

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