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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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in der Dunkelheit. Der halbe Mond beleuchtete den steinigen unebenen Weg nur notdürftig.
    Nach einer Weile sah er auf seinem Display, dass er Empfang hatte, und blieb stehen. Legte das Handy auf einen flachen Stein und atmete tief durch. Die Beleuchtung des Displays störte ihn, und er drehte das Handy um. Als eine Eule lautlos über den Bach schwebte, überkam ihn fast so etwas wie Wehmut. Bald würde Anne hier in Valle Coronata leben. Würde wie er den Berg hinauf steigen, um zu telefonieren. Er wollte nicht daran denken, wollte dieses Gefühl nicht zulassen. Gefühle zerstörten alles. Wenn er sie nicht beherrschte, wurde er aggressiv. Das durfte nicht passieren, denn seine Aggression war wie eine Explosion.
    Um einundzwanzig Uhr zweiunddreißig rief sie an.
    »Carla« sagte er und gab seiner Stimme einen fröhlichen Klang, »wie geht's dir? Ist alles okay?« »Enrico«, sagte sie, »hör zu.« Sie war aufgeregt, und ihre Stimme zitterte, was ihm immer ungeheuer auf die Nerven ging. Allerdings hatte er noch nie ein Wort darüber verloren.
    »Mein Vater liegt im Sterben. Es geht ihm sehr schlecht. Einer von uns muss immer bei ihm sein. Rund um die Uhr.« »Warum bringt ihr ihn nicht ins Krankenhaus?«
    Sie schnappte nach Luft. »Weil wir ihm das nicht antun wollen. Er bekommt noch sehr gut mit, was mit ihm geschieht. Aber ich glaube nicht, dass ich dir das erklären muss. Oder willst du im Krankenhaus sterben?«
    Nein. Das wollte er nicht. Und das würde er auch nicht. Da war er ganz sicher. Das würde er verhindern. Hundertprozentig. Und auch Carla würde er davor bewahren.
    »Was hat der Arzt gesagt?«
    »Er hat gesagt, es kann noch drei Stunden, drei Tage, drei Wochen oder drei Monate dauern. Im Moment ist er sehr, sehr schwach ..., aber vielleicht geschieht ein Wunder, und er rappelt sich noch mal.«
    »Komm nach Hause«, sagte Enrico. »Sofort. Am besten, du steigst morgen in den Zug.«
    »Aber das kann ich nicht! Wie stellst du dir das vor? Ich kann doch meine Mutter und meine Schwester in dieser Situation nicht allein lassen!« Sie war sehr laut. Ihre Stimme tat ihm in den Ohren weh. Er musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht die Kontrolle zu verlieren, und hatte Mühe, ruhig zu antworten.
    »Doch, du kannst. Oder willst du die nächsten drei Monate am Bett deines Vaters Wache schieben? Im Grunde geht es ihm nicht anders als allen alten Leuten in diesem Alter. Sie können übermorgen oder in einem Jahr tot umfallen. Ich möchte, dass du nach Hause kommst, Carla. Und du wirst sehn, dein Vater lebt auch Weihnachten noch.«
    Carla schwieg. Dann fragte sie leise: »Woher willst du das wissen?«
    Enrico verlor langsam die Nerven. »Wir kriegen ein Problem, wenn du nicht nach Hause kommst. Du bist jetzt drei Wochen weg, das reicht.«
    Carla wechselte das Thema. »Gibt es sonst irgendetwas Neues?«
    »Nein, nichts.« Carla wusste nicht, dass er verkaufen wollte.
    Er würde es ihr irgendwann sagen, wenn sie wieder hier war. Es würde nicht einfach sein, denn Carla ging davon aus, dass dieses Haus für immer ihr italienisches Zuhause sein würde. Aber er wollte kein Zuhause. Er wollte frei sein. Ohne Besitz und ohne Ballast. Immer mit der Möglichkeit, sofort aufzubrechen.
    »Mach's gut, Lieber«, sagte sie. »Ich komme so schnell wie möglich. Und bitte, denk an mich.«
    »Natürlich. Morgen um halb zehn ist mein Telefon wieder an.« »Ja. Tschüss.« Sie klang resigniert, aber er wusste, dass sie tun würde, was er verlangte.
    Er knipste das Handy aus. Die unangenehmste Pflicht des Tages war erledigt. Er hasste es, überhaupt Pflichten zu haben, hasste es, irgendetwas tun zu müssen. Jegliche Reglementierung, jegliche Richtlinie lehnte er ab. Es gab nur das Erwachen und die Lust auf den Tag. Und die Freiheit zu lesen oder umzugraben oder ein Huhn zu schlachten. Das war Leben. Nicht mehr und nicht weniger.
    Er stand auf, ging zurück zum Haus und von dort hinunter zum Bach. Der Mond war hinter einer Wolke verschwunden, und jetzt war es stockdunkel, aber er kannte jeden Stein, jede Baumwurzel, jede Unebenheit am Hang. Er konnte sich blind auf dem Grundstück zurechtfinden. Das war eine Grundvoraussetzung für Sicherheit. Er hatte lange geübt, um so weit zu kommen. Umso dümmer eigentlich zu verkaufen. Er würde woanders wieder von vorn anfangen müssen, und alle Ängste würden unweigerlich wieder an die Oberfläche kommen. Es ging ja schon los. Die Furcht davor begann ja bereits jetzt.
    Er hockte sich an den

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