Der Kindersammler
Terrasse, die um diese frühe Zeit in praller Sonne lag, saß ein Mann und las. Er schien von den beiden Besuchern, die den Weg heraufkamen und direkt in seinem Blickfeld waren, keinerlei Notiz zu nehmen. Er saß kerzengrade, ohne die Lehne des Stuhls zu berühren, völlig bewegungslos, scheinbar hochkonzentriert. Nur die Handgelenke berührten die Tischkante, und beide Hände hielten das schräg aufgerichtete Buch.
So kann man doch nicht lesen, dachte Anne, so liest kein Mensch. Das ist weder Vergnügen noch Entspannung, das ist Schwerstarbeit. Eine Ins zenierung. Er demonstriert uns, dass er liest. Vielleicht hat er das Auto schon gehört, als wir noch auf dem Berg waren. Warum schaut er nicht auf? Warum sieht er uns nicht entgegen? Warum legt er das Buch nicht zur Seite?
Er wirkte wie ein Monument, eine menschliche Skulptur, von Michelangelo in Stein gemeißelt. Sein Gesicht hatte eine kräftige Farbe, die darauf hindeutete, dass er sich offensichtlich fast ausschließlich im Freien aufhielt, seine weißen Haare glänzten im Sonnenlicht.
»Hallo, Enrico«, rief Kai. »Ich bringe dir eine Interessentin. Hoffentlich stören wir nicht?«
Endlich bewegte er sich und ließ das Buch langsam sinken. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
»Aber überhaupt nicht«, sagte er. »Seht euch ruhig um. Alle Türen sind offen, ihr könnt überall hineingehen.«
Eine Begrüßung mit Handschlag war nicht möglich, denn Enrico saß oben auf der Terrasse, Anne und Kai standen unten auf dem Weg, und Enrico machte keine Anstalten, zu ihnen herunterzukommen.
Er hat was, dachte Anne. Charisma. Sieht aus wie ein schöner, stolzer Römer. Fehlen nur noch die Toga und die hoch geschnürten Sandalen, um das Bild perfekt zu machen. Wahrscheinlich ist er schwul. Männer, die so aussehen, sind immer schwul.
»Komm«, sagte Kai. »Ich zeig dir alles.«
Sie betraten das Haupthaus und standen in der Küche. Ein kleiner Raum mit jahrhundertealten Balken, schiefen Wänden und Mauern aus Natursteinen, der Fenstersturz über dem winzigen Sprossenfenster so schief wie auf einem Bild aus einer längst vergangenen Zeit. Licht fiel in die Küche vor allem durch die verglaste Tür, die jetzt sperrangelweit offen stand. Obwohl es draußen von Minute zu Minute wärmer wurde, war es in der Küche sehr kühl. In der Ecke befand sich eine gemauerte Steinbank, davor stand ein Tisch aus schwerem, gehobeltem Kastanienholz. Anne fiel sofort das Foto auf, das über der Bank hing. Es zeigte eine blonde Frau, ungefähr in ihrem Alter, die ein Glas Wein in der Hand hielt und sehr versonnen aussah. Das Bild war faszinierend und ungeheuer intensiv, aber es wirkte wie ein Fremdkörper in dem alten Gemäuer. Die Arbeitsplatte war ebenfalls aus schweren Steinen gemauert, die Blende hinter der Arbeitsplatte bildeten grobe Mattoni. Offenbar selbst gezimmerte Schranktüren vervollkommneten den Eindruck einer rustikalen Küche aus dem vorigen Jahrhundert. Statt eines Küchenschrankes hing nur ein schmales Regal an schweren Ketten von der Decke, die Teller und Tassen darauf schwankten bei jedem Luftzug.
Eine schmale, gewundene Steintreppe führte in den oberen Stock, wo der Blick sofort auf einen großen, aber sehr schlichten Kamin fiel. Ein wunderschöner Fußboden mit alten Mattoni korrespondierte perfekt mit einem restaurierten Schrank und zwei kleinen Sesseln, die vor dem Fenster standen. Von dort hatte man einen herrlichen Blick auf den wesentlich tiefer gelegenen Bachlauf und die kleine Mühle. Im Schlafzimmer standen ein üppiges Doppelbett und eine Kommode.
Viel schien Enrico nicht zu besitzen. Das Zimmer war relativ dunkel, da der Nussbaum direkt vor dem Fenster fast das gesamte Licht schluckte. Die gläserne Tür führte auf die am höchsten gelegene Terrasse, auf der Enrico immer noch unbeweglich saß. Jetzt konnte Anne erkennen, dass er »Sophies Welt« las, was sie irgendwie überhaupt nicht verwunderte. Natürlich, er philosophierte. Ein Philosoph vor einer alten Mühle, die er selbst restauriert hatte. Das passte perfekt zusammen.
Vom Kaminzimmer gelangte man ins Bad, das über zwei Ebenen gebaut war. Oben befanden sich zwei Waschbecken, ging man die Treppe hinunter, kam man direkt in die offene Doppeldusche, der Toilette gegenüber. Die Toilettentür stand offen und gab den Blick frei auf einen bizarren Felsen, in den Enrico eine kleine Treppe gehauen hatte, und auf den dichten Wald, der das Tal begrenzte.
Anne sah Kai fassungslos an. »Das ist
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