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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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soll?«
    Harald sank auf einen Stuhl und zuckte die Achseln.
    »Vielleicht hast du ja wirklich Recht. Das ist Blödsinn mit dem Porsche. Dann kann es also nur ein Spaziergänger gewesen sein.
    Oder ein Wilderer. Er hat Felix zufällig getroffen, als er am Bach spielte, und hat ihn gefragt, wie man am schnellsten ins Dorf kommt. Felix ist mit ihm mitgegangen und hat ihm den Weg zeigen wollen. Und ein Stückchen weiter stand bereits sein Auto...«
    »Felix würde mit keinem Fremden mitgehen ...«
    Harald griff nach dem Whisky. »In der Stadt vielleicht nicht, aber hier im Wald ist es eine andere Situation. Da ist jeder Fremde sofort ein Verbündeter. In der Einsamkeit muss man sich gegenseitig helfen, da sitzen alle im gleichen Boot. Er wurde einfach nicht misstrauisch. Und schließlich ist er ins Auto eingestiegen, weil es so fürchterlich geschüttet hat. Nach dem Motto: Nur einen Augenblick ins Trockne, bis es aufhört zu regnen.«
    Harald verstummte. Der Rest war klar. Felix war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und hatte seinen Mörder getroffen, ohne dass dieser nach ihm gesucht hatte. Er hatte den Zufall genutzt, Felix umgebracht und wahrscheinlich irgendwo auf seinem eigenen Grundstück verscharrt. Niemand würde ihn je dort finden, weil niemand ihn dort suchen würde. Man konnte nicht alle Privatgrundstücke der Toscana umgraben.
    Anne war seit zwei Wochen nicht mehr aus dem Haus gegangen, um den Moment nicht zu verpassen, falls Felix wiederkam. Harald musste sie lange überreden, mit ins Dorf zu kommen und eine Kleinigkeit essen zu gehen. Schließlich saßen sie im Ambra-Albergo. Die eisblau gestrichenen Wände, der lärmende Fernseher unter der Decke und das gleißend grelle und kalte Licht der Neonröhren unter der Decke unterstrichen ihre Verlassenheit. Sie waren verloren ohne Felix. Sie hatten keine Hoffnung mehr und spürten, dass sie kurz davor waren, einander auch noch zu verlieren. Das alles wussten Anne und Harald an diesem Abend, aber sie sprachen es nicht aus.
    »Ich muss zurück nach Hause«, sagte Harald. »Ich kann die Praxis nicht länger geschlossen lassen.«
    Anne nickte nur. Natürlich. Harald hatte die Praxis erst vor drei Jahren von einem alten Landarzt übernommen, der wenige Monate später starb. Viele Patienten waren zu dem zweiten praktischen Arzt im Dorf abgewandert, da sie Harald erst einmal abwartend und skeptisch gegenüberstanden. Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen, sich einen beständigen und treuen Patienten stamm aufzubauen. Jetzt, während des Urlaubs, hatte Doktor Sprenger wieder die Vertretung übernommen, das hieß, er kümmerte sich um alle. Bliebe Harald noch länger weg, würde er wieder Patienten verlieren.
    Anne sah ihn an, aber da war kein Funken Liebe mehr. Sie suchte in seinem Gesicht, kramte in ihrer Erinnerung und wollte dieses beständige Gefühl wiederentdecken, wiederfinden, aber da war nichts. Nur noch Leere. Und Gleichgültigkeit. Er würde sie immer an Felix erinnern. Felix war ohne ihn undenkbar, aber auch er war für sie ohne Felix unvorstellbar. Wahrscheinlich ging es ihm genauso mit ihr.
    »Ich bleibe noch«, sagte Anne.
    Er starrte sie fassungslos an. »Wozu? Was willst du hier? In irgendeinem Haus sitzen und auf einen Anruf warten, den du auch zu Hause bekommen kannst? Im Wald herumlaufen und ihn suchen? Du bist zwei Wochen nicht im Wald herumgelaufen, also was soll das?«
    »Ich kann jetzt hier irgendwie nicht weg.«
    »Anne, ich brauche dich in der Praxis. Und das ist wichtiger, als dass du hier im Dorf herumrennst und dein tränenverschmiertes Gesicht vorführst. Und zum tausendsten Mal die Frage stellst, ob vielleicht irgendjemand irgendetwas gesehen hat. Und spätestens in vier Wochen kann sich sowieso kein Mensch mehr daran erinnern, was er kurz vor Ostern gemacht hat.«
    »Wir können doch jetzt nicht einfach abreisen!«
    »Doch, das können wir. Das müssen wir sogar. Weil es nichts mehr bringt, hier herumzuhocken. Weil die Carabinieri nichts
    mehr unternehmen werden, es sei denn, sie stolpern aus Versehen über Felix. Wir haben Flugblätter ausgehängt. Wir haben alle Menschen befragt, die wir befragen konnten. Wir haben jeden verdammten Zentimeter im Umkreis des Hauses nach irgendeinem Hinweis durchgekämmt.
    Hunderte, ach was, Tausende von Quadratmetern. Taucher haben den See abgesucht, Hunde den gesamten Wald in der Umgebung durchschnüffelt. Wir können nichts mehr tun, Anne. Wir können nur noch hier sitzen bleiben

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