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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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Anne ihn auf Mitte fünfzig schätzte. Er setzte die Espressi ab und stellte kühles, klares Wasser dazu.
    »Wenn du willst, gehen wir nachher in den Wald. Es ist nicht weit, hundert Meter vielleicht, und dort zeig ich dir die Quelle. Nur dieses Tal nimmt Wasser aus dieser Quelle. Niemand sonst. Ich habe eine Pumpe angeschlossen, die das Wasser ins Haus transportiert. Du brauchst nie wieder Mineralwasser zu kaufen. Besseres Wasser gibt es nicht.«
    »Traumhaft.«
    »Wasser ist das Wichtigste. Alles andere findet sich. Zum Wohl.« Enrico trank seinen Espresso. Die winzige Tasse in seinen knochigen, derben Fingern wirkte absurd.
    Kai kam sofort zur Sache. »Enrico, Anne will das Haus kaufen.«
    »Ich weiß«, Enrico lächelte und sah Anne an. »So wie du durch die Räume gegangen bist, war es klar. So geht man nur, wenn man sich in ein Haus verliebt hat. Aber ich wusste es schon, als ihr den Weg heraufkamt. Jetzt ist es verkauft, dachte ich. So schnell geht das also. Darum bin ich auch nicht mit herumgegangen und habe alles erklärt. Wozu? Du hast ja jetzt viel Zeit, alles kennen zu lernen.«
    40
    Jetzt, um zehn nach neun, war es noch immer nicht nötig, das Licht anzuschalten. Kerzen waren ihm ohnehin lieber, er versuchte ständig zu vermeiden, Strom zu gebrauchen. Jetzt würde er mit einem einzigen Teelicht auskommen. Vor zwei Wochen hatte er noch zwei gebraucht, an manchen Winterabenden verbrauchte er sogar bis zu vier. Vor allem, wenn er leichtsinnig wurde und beim Abwaschen zwei Kerzen aufstellte. Das hatte er manchmal getan, wenn er am nächsten Morgen feststellte, dass die Tomatensoße noch am Teller klebte oder Milchreste im Topf angetrocknet waren. Zeitweilig hatte er auch versucht, den Abwasch bei Tageslicht zu erledigen, doch dafür war ihm die Zeit zu schade. Jede Minute im Freien war kostbar, und es gab so viel zu tun, dass sein Leben für all die Arbeit nicht reichen würde. Er wusste, wie es war, in einem Raum eingesperrt zu sein und nicht in die Sonne oder den Regen hinaustreten zu können, daher wusste er die Natur in seinem versteckten, einsamen Tal umso mehr zu schätzen.
    Er setzte sich und atmete tief durch. Seine blaue Stunde. Nur für ihn allein. Ohne Carla, die ihm sonst, wenn sie ihm gegenübersaß, vorwurfsvolle Blicke zuwarf, weil er seit Stunden kein Wort gesagt hatte und sie sich von Minute zu Minute verlorener vorkam. Heute, in Momenten wie diesem, war ihm wieder einmal überdeutlich klar, dass er niemanden brauchte. Keinen Freund und keine Frau, keinen Berater und keinen Begleiter, keinen Helfer und keinen Gesprächspartner. Wenn die Welt geändert werden musste, dann fand er allein einen Weg, dies zu tun.
    Er sah sich um. Der Abendwind hatte sich gelegt, es war still im Wald. Selbst die Zikaden waren mittlerweile verstummt, denn hier in der Senke verschwand die Sonne bereits am frühen Abend hinter den Bergen. Und während die Abendsonne die Hügel noch den ganzen Abend wärmte und die Luft sich seidig und lau anfühlte, zog hier die feuchte Abendkühle durch das Tal und ließ einen selbst im August frösteln.
    Enrico spürte von all dem nichts. Er trug noch immer ein dünnes Hemd und eine kurze Hose, und seine nackten Füße steckten in Sandalen. Er trainierte seit Jahren, gegen Kälte und Schmerz und gegen Hunger und Durst unempfindlich zu werden. Langsam und qualvoll hatte er versucht, sich an all das zu gewöhnen und als normal hinzunehmen. Es war ein mühsamer Prozess gewesen, aber es vermittelte ihm ein gewisses Gefühl von Freiheit.
    Noch ein paar Tage, dann würden die Glühwürmchen das Tal erleuchten wie tausende von Zuschauern mit ihren Feuerzeugen die Halle bei einem Popkonzert.
    Er brauchte so etwas nicht. Er brauchte kein Fernsehen und kein Radio, keine Unterhaltung und vor allem keine Konversation. Vielleicht hin und wieder mal ein Buch. Aber ansonsten waren ihm seine Gedanken genug. Er war ihr Schöpfer, er hatte die Macht über sie und die Welt, die er sich schuf. Stundenlang konnte er so sitzen und denken, auch ohne Kerze und ohne Windlicht.
    Einundzwanzig Uhr dreißig. Er hasste diese halbe Stunde am Tag, die jetzt auf ihn zukam. Er schaltete sein Handy ein und machte sich auf den Weg. Ging bis hinunter zum Parkplatz, folgte dem Weg bis zu einer kleinen Senke, watete durch den Bachlauf und bog dann rechts ab bis zu einem holprigen Pfad, der sehr steil anstieg. Er kletterte leichtfüßig und ohne Anstrengung, gewann sehr schnell an Höhe und setzte seine Schritte sicher

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