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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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schön.«
    Anne schaltete ihr Handy aus und legte es auf den Nachttisch. Sie hätte schon damals auf ihre innere Stimme hören und bleiben sollen. Damals, zwei Wochen, nachdem Felix verschwunden war.
    42
    La Pecora, 1994
    Es war Donnerstag nach Ostern. Harald kam völlig aufgelöst und beinah euphorisch nach Hause. Er war mehrere Stunden unterwegs gewesen und hatte hunderte von Flugblättern an Mauern, Bäume, Müllcontainer und Schaufensterscheiben geklebt. In Castelnuovo Berardenga, Montebenichi, Rapale, Ambra, Cennina, Capannole und Bucine.
    Auf dem Flugblatt war ein Bild von Felix, er lachte, der Pony war durch den Wind zur Seite geweht und gab die Stirn frei, auf der Nase hatte er einen leichten Sonnenbrand. Darunter stand auf Deutsch und auf Italienisch: »Felix Golombek, zehn Jahre alt, wird seit dem 16. April um 18 Uhr vermisst. Er ist ca. 1,20 m groß, sehr schlank und hat blondes Haar. Er trug zuletzt T-Shirt, Jeans und Turnschuhe. Wer ihn gesehen hat, melde sich bitte unter der Tele fonnummer 338675432 oder bei der Polizei in Ambra.«
    Als Harald an die Tür der Bar in Capannole ein Flugblatt klebte, sprach ihn eine alte Frau an. Sie hatte so einen kleinen Jungen gesehen. Am Samstag vor Ostern. In einem silbergrauen Porsche auf dem Beifahrersitz. Die alte Frau hatte sich natürlich kein Nummernschild gemerkt, weil es ihr nicht wichtig war. Der Wagen war ihr nur aufgefallen, weil er so extrem langsam fuhr. So, als suche er einen Parkplatz, dabei hätte er überall am Straßenrand halten kön nen. Aber Maria Sacci konnte noch nicht einmal sagen, ob am Steuer ein Mann oder eine Frau gesessen hatte. Sie hatte einfach nicht darauf geachtet.
    Harald hatte die Carabinieri in Bucine sofort über Marias Beobachtung informiert, und diese hatten freundlich versichert, sich um die Angelegenheit kümmern zu wollen. Sie würden ihn natürlich auf dem Laufenden halten.
    Harald rauchte normalerweise nicht, aber jetzt bat er Anne um eine Zigarette. Endlich hatte er einen Anhaltspunkt, einen winzigen Strohhalm, an den er sich klammern konnte. Er zitterte vor Aufregung.
    »Auf alle Fälle hat er also Samstag noch gelebt. Und dann ist es gar nicht mehr so unwahrscheinlich, dass er auch jetzt noch lebt. Irgendwo bei diesem Schwein im silbergrauen Porsche.«
    Anne fand an diesem Gedanken wenig Tröstliches und meinte: »Wir wissen doch gar nicht, ob es wirklich Felix war! Es gibt viele kleine, blonde Jungen auf der Welt, und wer weiß, was die Frau wirklich gesehen hat? Kann sein, dass der Junge sogar dunkle Haare hatte, und sie dachte, klein er Junge ist kleiner Junge. Vielleicht ist Felix zwei Stunden früher in einem Fiat vorbeigefahren, und niemandem ist etwas aufgefallen, weil ein kleiner Junge in einem Fiat einfach etwas Stinknormales ist.«
    Sie wusste, dass sie ihm in diesem Moment seine ganze schöne Hoffnung zunichte machte, aber gesagt war gesagt, und jetzt musste sie weitermachen und setzte noch einen drauf.
    »Wenn ich einen kleinen Jungen kidnappe, fahre ich nicht in so einem verdammt seltenen und auffälligen Auto mit ihm spazieren.«
    Harald starrte aus dem Fenster, rauchte und hielt die Zigarette so merkwürdig, als wäre es die erste Zigarette seines Lebens.
    »Wenn ich den Kerl erwische, bringe ich ihn um.«
    »Ich weiß.«
    Beide schwiegen einen Moment.
    »Wenn die Frau Recht hat, war es sicher niemand aus der näheren Umgebung«, überlegte Anne. »Die Bauern hier fahren nicht im Porsche durch die Gegend. Dann war es also irgendein Fremder, ein Tourist, und der wird ihn über die Grenze bringen. Irgendwohin. Nach Belgien, frag mich nicht. Und wird ihn an irgendeinen Pornoring verkaufen ..., und wenn ich etwas nicht ertrage, dann diesen Gedanken.«
    Seine Euphorie war verschwunden. Er war wütend, vielleicht auch verzweifelt. In beiden Fällen hatte er den gleichen Zug um den Mund. Anne redete weiter.
    »Harald, überleg doch mal ... Hier im Wald ist alle hundert Jahre mal ein Pilzsucher unterwegs, aber da liegt kein organisierter Pornohändler bei einem fürchterlichen Gewitter im Gebüsch und wartet, ob in der Einsamkeit vielleicht alle zweihundert Jahre mal ein Kind vorbeikommt. Nein, diese Banden fangen die Kinder in den Städten beim Spielen von der Straße. Und darum glaub ich auch nicht, dass es Felix war in diesem Porsche.«
    »Sondern?«
    »Keine Ahnung, ich kann mir das alles nicht erklären. Ich habe einfach keine Idee! Aber was glaubst du denn, wie Felix in den Porsche gekommen sein

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