Der Kindersammler
Jahre vergehen, bis Anne wieder nach La Pecora kam.
43
Toscana, 2004
Schon die leicht kurvige Straße nach Montebenichi vermittelte einen faszinierenden Eindruck von der Landschaft, die sehr dem Chianti ähnelte. Sanft geschwungene Hügel, auf denen Wein wuchs, hin und wieder ein imposantes Anwesen, das für die Ferien
zu mieten war, Wiesen, auf denen Pferde grasten, und immer wieder Sonnenblumenfelder, die in dieser Jahreszeit in voller Blüte standen. Der Blick auf Montebenichi, das auf einer Bergkuppe lag und aussah wie eine Haube aus ineinander verketteten mittelalterlichen Natursteinhäusern, war atem beraubend schön.
Es war ein heißer Tag, und Kai öffnete das Autofenster, das er bisher nur einen Spalt aufgelassen hatte, ganz. Er wartete auf lautstarken Protest, als der Wind durch Frau Schraders Dauerwelle fuhr, aber sie sagte keinen Ton, sondern nestelte in ihrer Handtasche herum und zog ein geblümtes Seidentuch heraus, das sie sich als Kopftuch um die Frisur band.
Du bist hier goldrichtig, dachte Kai, du bist genau die Kategorie Toscanadeutsche, die mir mein Auskommen sichert, weil du in zwei Jahren wieder verkaufst und dir dann doch einen Flachdachbungalow an der Costa del Sol zulegst.
»Was zeigen Sie uns denn heute Hübsches?«, fragte Frau Schrader zuckersüß. Sie versuchte, ihre schlechte Stimmung wegen des offenen Fensters zu überspielen, was ihr aber nicht gelang.
Statt einer Antwort fragte Kai: »Soll ich das Fenster wieder schließen?«
»Nein, nein, geht schon. Der Fahrtwind tut ja richtig gut bei der Hitze«, stöhnte sie.
»Sehen wir jetzt eine Ruine oder mal was Fertiges?«
»Sowohl als auch.« Kai musste auf den Randstreifen fahren und stehenbleiben, um auf der schmalen Straße einen breiten, entgegenkommenden Laster vorbeizulassen. »Ich zeige Ihnen ein Paket von drei Objekten. Fertig und unfertig. Sie können jedes Objekt einzeln kaufen, aber auch alles zusammen zu einem sehr guten Preis.«
»Was sollen wir denn mit drei Häusern?« Frau Schrader zog entnervt an ihrem engen Rock, der immer wieder über ihren dicken Knien hochrutschte.
»Spekulieren. In wenigen Jahren zwei Objekte wieder verkaufen. Oder erst restaurieren und dann wieder verkaufen. Einen Verlust machen Sie sicher nicht, die Preise in der Toscana steigen unentwegt«
Herr Schrader erwachte auf der Rückbank zusammen mit seinem Geschäftssinn. »Das klingt interessant.«
Kai hatte Montebenichi erreicht und fuhr langsam durch den kleinen Ort. Den ganzen Vormittag schon hatte er versucht, Anne zu erreichen, aber ihr Handy war scheinbar nicht eingeschaltet, was ihn allmählich nervös machte.
»Ach Gott, wie entzückend«, murmelte Frau Schrader. Ihr Mann war auf dem Rücksitz wieder in Lethargie versunken.
Kai bog in einen kleinen staubigen Feldweg ein und fuhr eine kurvige Schotterstraße bergab, an mehreren Landsitzen vorbei bis in ein weitläufiges Tal, durch das sich ein Bach schlängelte, der im Winter häufig zu einem breiten Fluss anschwoll. Nach einer Brücke stieg die Straße wieder an bis hinauf nach San Vincenti, wo Kai direkt auf der Piazza neben einer verrotteten und längst nicht mehr funktionsfähigen Telefonzelle parkte.
»Da wären wir«, sagte er, stieg aus und ging um den Wagen herum, um Frau Schrader beim Aussteigen zu helfen.
Sie standen direkt vor einem Palazzo, dem größten und imposantesten Gebäude des Ortes.
»Dieser Palazzo aus dem siebzehnten Jahrhundert ist zum Beispiel ein Teil des Paketes. Den können Sie kaufen. Er müsste lediglich ein bisschen renoviert, aber nicht grundlegend restauriert werden. Wollen wir hineingehen?«
Kai ging voran, die Schraders folgten stumm. Kai schloss das große Hauptportal auf und knipste das Licht in der Diele an, das die unwirtlich weiß gekalkten Wände noch kälter erscheinen ließ.
Frau Schrader stand gelangweilt in einer Ecke herum und fühlte sich sichtlich unwohl, während Herr Schrader jedes Fenster öffnete, jeden Schlüssel in den Türen herumdrehte, jeden Wasserhahn öffnete, die Wände abklopfte, aber keinen Ton von sich gab. Kai ließ sie in Ruhe und wartete auf Fragen, aber es kamen keine.
Und dann sah er sie. Sie kam auf einer beigefarbenen Vespa angeknattert, und natürlich fiel ihr sofort auf, dass die Fenster des Palazzo offen standen. Sie hielt an, stieg ab und lächelte. Kai trat schnell vom Fenster zurück, aber es war zu spät. Sie hatte ihn längst bemerkt.
Allora war achtzehn oder achtundzwanzig oder achtunddreißig.
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