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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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und darauf warten, dass wir verrückt werden.«
    Die Bedienung ging vorbei, und Harald bestellte noch einen halben Liter Wein, in dem er einfach die leere Karaffe anhob. Er wirkte entschlossen und hart. Sein abgemagertes Gesicht sah aus wie in Stein gemeißelt. Wahrscheinlich hätte man in diesem Moment mit einem Hammer hineinschlagen können, ohne ihm etwas anzuhaben.
    Anne spürte, wie ihr der Wein hochkam und einen ekelhaft sauren Geschmack in ihrem Mund verbreitete. Es fiel ihr schwer zu sprechen.
    »Es ist also wichtiger, dass ich Blut abnehme, Druckverbände anlege und sage: >Der Doktor kommt gleich, kleinen Moment noch, Frau Nakczinsky?«
    »Ja.«
    »Du bist widerlich.«
    Harald sagte nichts dazu, er sagte überhaupt nichts mehr an diesem Abend. Schweigend tranken sie den bestellten halben Liter Wein, und noch nie hatte der Chianti so bitter geschmeckt. Dann zahlten sie und verließen den Saal Anne hatte das Gefühl, von allen angestarrt zu werden, als sie hinausgingen: »Das ist die mit dem kleinen Jungen, der verschwunden ist ...«, aber niemand sagte etwas, niemand hielt sie auf, niemand flüsterte ihnen ein: »Es tut uns ja so Leid« zu. Sie gingen einfach unbehelligt hinaus und waren wieder allein auf der Welt. Sie fühlten gar nichts mehr. Als hätte man ihnen das Herz herausgerissen.
    Die schweigsame Fahrt nach La Pecora schien endlos. Anne schloss die Augen und fühlte wegen der Serpentinen Übelkeit in sich hochsteigen. Sie hoffte, sich übergeben zu können, aber es passierte nicht. Der Wagen rumpelte über die Schotterstraße durch die Nacht, sprang über Schlaglöcher und Bodenwellen, und sie spürte, dass Harald viel zu schnell fuhr, aber es war ihr egal. Der Abgrund erschien ihr auf einmal gar nicht mehr so schrecklich.
    In La Pecora ging sie sofort ins Bett. Sie schaffte es gerade noch, sich auszuziehen, und kroch unter die Decke, obwohl sie sich nichts sehnlicher wünschte, als in den Arm genommen zu werden und zu weinen. Um endlich getröstet zu werden. Aber da war niemand.
    Denn Harald stand auf der Terrasse, starrte in die Dunkelheit und verfluchte diese ganze ungerechte, beschissene Welt.
    Am nächsten Morgen stand Anne ganz früh auf und stürzte sich in blindwütigen Aktionismus. Sie packte die Koffer, machte Frühstück und packte die Kühltasche mit Lebensmitteln für unterwegs, während Harald das Auto belud. In Felix' winzigem Schlafzimmer zwang sie sich, seine Sachen einfach so einzupacken, wie sie es schon unzählige Male getan hatte, völlig emotionslos, als würde sie gleich rufen: »Felix, komm, lass die Kröte in Ruhe, wasch dir die Hände und geh noch mal pinkeln, wir fahren gleich los ... « Sie bildete sich ein, er wäre draußen, holte sich ein letztes Mal nasse Füße im Bach und dreckige Hosen im Moos.
    Wie oft hatte sie ihn ausgeschimpft deswegen, wie ungeduldig, wie unleidlich und sicher auch ungerecht war sie gewesen, hatte auf der kleinen Kinderseele herumgetrampelt, weil es ihr wichtiger war, dass ein sauberes Kind im Auto saß.
    Es tat ihr so Leid, es tat ihr jetzt so unendlich Leid. Alles hätte sie dafür gegeben, noch einmal die Gelegenheit zu haben, alles wieder gutzumachen und ihn in den Arm zu nehmen...! Sie war ja zu dumm gewesen zu begreifen, welches Glück es bedeutete, wenn ein kleiner verdreckter Junge vor der Tür herummaulte, der sich von seinen Stöcken, Steinen und Kröten nicht trennen konnte.
    Und jetzt verließen sie ihn. Mit ihrer Abfahrt signalisierten sie, dass sie aufgegeben hatten. Sie suchten nicht mehr, weil sie eingesehen hatten, dass sie ihn niemals finden würden. Er existierte nicht mehr. Er würde nie mehr um ein Baumhaus betteln, mit Harald Nachtspaziergänge machen und Überraschungseierfiguren sammeln. Sein Platz im Auto, an ihrem Küchentisch und in der Schule würde leer bleiben. Er hatte sich in Luft aufgelöst, war von dieser Welt verschwunden, ohne Vorwarnung. Und ohne Adieu.
    Harald glaubte nicht mehr an seine Rückkehr, und Anne hatte das Gefühl, Felix zu verraten.
    Harald schloss die Haustür ab und warf den Schlüssel zusammen mit einer kurzen Nachricht für Pino und Samantha in den dafür vorgesehenen Blumentopf neben der Treppe. Bezahlt hatten sie bereits im Voraus.
    Was gewesen war, war nun für immer vorbei. Und Anne hatte nicht die geringste Lust auf das Leben, das sie erwartete.
    Dann war es so weit. Harald fuhr den ansteigenden Schotterweg ungewöhnlich langsam hinauf, aber sie sahen sich nicht um.
    Es sollten zehn

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