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Der Kindersammler

Titel: Der Kindersammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Thiesler
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Keiner wusste es, und es wollte auch niemand wissen. Am allerwenigsten Allora selbst. Sie war sonnengebräunt und muskulös und hatte schlohweißes Haar, das sie sich selbst mit einer Schere abschnitt, je nachdem, wie sie gelaunt war. Mal länger, mal kürzer.
    Manchmal, wenn man ihr ins Gesicht sah, sah sie aus wie eine alte Frau, die den größten Teil ihres Lebens schon hinter sich hat, ein andermal wirkte sie wie ein junges Mädchen, noch keine zwanzig, Allora war nicht einzuschätzen, und genauso unberechenbar war sie auch.
    Fiamma hatte sie in einem Heim in Florenz entdeckt, wo sie in einem Gitterbett saß und unentwegt die eisernen Gitterstäbe ableckte. Und Fiamma hatte die Idee, sie bei der alten Giulietta unterzubringen, die ganz allein und ohne Hilfe in einer kleinen Hütte lebte, beinah taub und fast blind war und sich mehr kriechend als gehend vorwärts bewegte. Giulietta war schon seit Jahren nicht mehr im Dorf gewesen — der Weg war einfach zu weit.
    Außerdem brauchte man jemanden, der einmal in der Woche die Dorfstraße und die Piazza fegte die Blumen für die Kirche vom Markt holte und bei der Olivenernte half. Es gab viel zu tun in San Vincenti, und Fiamma nahm Allora mit. Sie hatte keinen Ausweis, keine Papiere und keinen Namen. Aber sie hatte ein Lieblingswort. »Agora.« Wenn sie es sagte, meinte sie »ja« oder »nein«, »ich komme gleich« und »es geht nicht«, »das mache ich« oder »das mag ich nicht«, »hau ab« oder »bleib hier«, aber auch »ich bin müde« oder »ich habe Hunger«. Sie drückte fast alles mit diesem einen Wort aus, und dabei waren ihr Gesichtsausdruck und ihre Betonungen so deutlich und drastisch, dass jeder sie verstand.
    Fiamma hatte sicher nicht damit angefangen, aber bereits nach kurzer Zeit nannte sie jeder »Allora«.
    Allora hatte bei der alten Giulietta eine kleine Kammer gleich hinter der Küche, in die nicht mehr hineinpasste als ein Bett. Sie nannte Giulietta »mia nonna« — meine Großmutter — und kochte ihr jeden Tag eine Minestrone, denn das war das Einzige, was sie kochen konnte. Nach dem Essen leckte sie die Teller und die Löffel sorgfältig sauber und stellte alles zurück in den Schrank. Der Nonna band sie Baumwolllappen um die Knie, damit sie besser durch die Gegend rutschen konnte. Nonna grunzte vor Freude, wenn Allora ihr die verfilzten Haare kämmte. Sie war die strega, die alte Hexe von San Vincenti, vor der die Kinder Angst hatten, und manche munkelten, sie wäre schon über hundert Jahre alt. Am Nachmittag, auf der verwitterten Steinbank neben Allora, hielt sie zum ersten Mal seit Jahren wieder ihr Gesicht in die Sonne. Allora horchte angestrengt, ob Nonnas Falten im Gesicht knisterten, wenn sie sich erwärmten, so wie Haare, die in einer Flamme verschrumpeln.
    Allora entfernte die uralten Verbände mit dem eingetrockneten Eiter um Nonnas Knöchel und schrubbte die verkrusteten Binden so lange unter fließendem Wasser, bis sie nicht mehr braun, sondern wieder beige waren. Dann sagte sie »allora«, murmelte etwas Unverständliches, das ein Gebet hätte sein können, legte Salbeiblätter auf die tiefen Wunden und verband Nonnas Knöchel neu, die nie wieder verheilen würden und ständig vor sich hin suppten. Nonna sah nicht, was Allora tat, und sie hörte nicht, was Allora brabbelte, aber sie spürte, dass ihre Knöchel weniger brannten.
    Manchmal rannte Allora ins Dorf und stahl für die Nonna Amaro, einen Kräuterschnaps, weil sie ihn so sehr liebte. Allora wurde dabei nie erwischt. Oder Reno, der Alimentarihändler, drückte beide Augen zu, wenn Allora die Flasche unter ihren Rock schob. Dann saßen Nonna und Allora abends bei Kerzenschein, Nonna trank den Amaro und erzählte vom Krieg. Sie hatte nur überlebt, weil sie unter die Holzdielen der Küche gekrochen war, als ihre Familie erschossen wurde. Damals wohnten sie noch in einer Holzhütte im Wald, zu Fuß eine halbe Stunde oberhalb von Moncioni. Dann nahm Allora Nonnas Hand, streichelte ihre mageren Finger und weinte ein bisschen.
    Ab und zu kam Fiamma vorbei, brachte Brot und Gemüse und manchmal sogar einen Schinken. Und hin und wieder etwas zum Anziehen. Eine Jacke für die Nonna und eine Hose oder neue Schuhe für Allora. Die Schuhe stellte Allora aufs Fensterbrett gleich neben das Bild der heiligen Jungfrau und schonte sie. Sie hatte Angst, sie anzuziehen, sie fürchtete jedes Staubkorn und jeden Kratzer und ging weiterhin barfuß. Oder im Winter mit dicken Socken, die die

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