Der Kirschbluetenmord
Aufstände wie die Große Verschwörung noch Erfolgsaussichten hatten, sind längst vorüber. Außerdem kann ich Euch versichern, daß die Daimyō-Sippen, die Nius eingeschlossen, großes Interesse daran haben, daß unsere derzeitige Regierung an der Macht bleibt. Wie Ihr wißt, herrschen die Daimyō in den Provinzen fast uneingeschränkt und besitzen einen großen Teil der Reichtümer des Landes. Bei einem Krieg gegen die Tokugawas könnten sie das alles verlieren.«
Mit einem Anflug von Ironie, der ihn beinahe zum Lachen verleitet hätte, begegnete Sano diesen Argumenten, die er selbst, wenn auch unter anderen Begleitumständen, einst Katsuragawa vorgetragen hatte. »Die Verschwörer sind unbesonnene, ehrgeizige junge Männer, denen es am Selbsterhaltungstrieb ihrer Ahnen mangelt«, sagte er. »Danach zu schließen, was ich vom jungen Fürsten Niu gesehen habe, gehört er nicht zu den Menschen, die sich bei ihrem Handeln von logischen Überlegungen leiten lassen. Wahrscheinlich liegt es an der Geisteskrankheit, die in seiner Familie verbreitet ist.«
»Uns sind die Neigungen des jungen Fürsten Niu sehr wohl bekannt«, erwiderte Toda. »Was Ihr uns auch von ihm berichten könntet – wir wissen es bereits. Er stellt keine Bedrohung für den Shōgun dar.«
Ungeachtet Todas herablassendem Tonfall und seines unverändert kühlen Gesichtsausdrucks erkannte Sano an der plötzlichen Anspannung in der Körperhaltung des metsuke, daß er einen Treffer gelandet hatte. Vielleicht konnte er einen weiteren erzielen.
»Möglicherweise unterschätzt Ihr Fürst Niu, weil er ein Krüppel ist«, sagte er.
Doch Toda schaute nur noch uninteressierter drein und schüttelte den Kopf. Er stand auf, ging zu einem Regal und nahm ein Notizbuch herunter. Dann kniete er sich wieder zu Boden, legte sich das Buch in den Schoß und schlug es auf.
»Fürst Niu Masahito.« Während er las, fuhr er mit dem Finger die Reihen der Schriftzeichen hinunter. »Mit einem mißgebildeten rechten Bein geboren, zurückzuführen auf …« Er zitierte die Diagnosen der Ärzte und die Meinungen der Astrologen, die bei der Geburt dabei gewesen waren. »Wohnt bei seiner Mutter in Edo, weil dem Vater sein Anblick zuwider ist.«
Toda blätterte einige Seiten weiter. »Im Alter von fünfzehn Jahren tötete er einen rōnin bei einem Zweikampf, wobei er selbst den Gegner herausgefordert hatte. Im gleichen Jahr führte er eine Bande an, die eine Eta-Ansiedlung überfiel, und tötete zehn Personen. Mit sechzehn erschlug er einen jugendlichen männlichen Prostituierten, worauf ihm der Zutritt in Yoshiwara verboten wurde. Seit dieser Zeit ließ er Lustknaben in die Sommervilla seiner Familie in Ueno bringen. Statt des Geschlechtsverkehrs bevorzugt er die Selbstbefriedigung und die oberflächliche Verstümmelung eines unter Drogen gesetzten männlichen Partners. Im Alter von siebzehn Jahren hat Fürst Niu …«
Die Liste schien kein Ende zu nehmen. Ein schockierender Vorfall, ein abstoßendes Detail folgte auf das andere; zudem enthüllte Toda die intimsten Einzelheiten aus Niu Masahitos Leben. Wenngleich Fürst Nius Exzesse ihn abstießen, war Sano beeindruckt von der Fülle an Informationen, die der metsuke gesammelt hatte. War es den kaiserlichen Spionen sogar gelungen, Spitzel in die Dienerschaft und die Gefolgsleute der Nius einzuschleusen? Vielleicht wußte Toda wirklich schon alles Wissenswerte über Fürst Niu. Vielleicht war die Verschwörung nichts weiter als ein verrücktes Spiel, das von müßigen jungen Männern aus wohlhabenden Familien nur in der Phantasie veranstaltet wurde.
»Alle diese Vorfälle sind deshalb nicht ans Tageslicht gekommen, weil die Nius ihr Vermögen und ihren Einfluß geltend gemacht haben«, endete Toda. »Aber das hat uns nicht daran gehindert, trotzdem in Erfahrung zu bringen, was wir wissen wollten. Wie Ihr seht, verfügen wir über ausreichend Informationen, um Fürst Nius Charakter einschätzen zu können. Wir unterschätzen ihn nicht – ebensowenig, wie wir ihn überschätzen.«
Oder die metsuke gingen schlichtweg davon aus, daß Fürst Niu niemals jemanden töten würde, der von Bedeutung für sie war, weil er es bis jetzt nicht getan hatte. Diese Annahme – sowie ihr Glaube an die Allwissenheit der Tokugawas – machte die metsuke blind.
»Wie könnt Ihr sicher sein, daß Euer Spionagenetz so arbeitet, wie Ihr vermutet?« fragte Sano. »Ihr benutzt Erpresser als Informanten. Mir scheint, Ihr unterschätzt das Risiko,
Weitere Kostenlose Bücher