Der Kirschbluetenmord
gänzlich zunichte gemacht, die Nachforschungen der Mordfälle zu einem erfolgreichen Abschluß zu bringen. Ohne O-hisas Zeugenaussage würde der Rat der Ältesten niemals etwas gegen Fürst Niu unternehmen – nicht auf der Grundlage ziemlich dürftiger Theorien und mit einer Sandale und einem Seil als den einzigen handfesten Beweisstücken. Tsunehikos Tod würde ungesühnt bleiben, wie auch die Morde an Yukiko und Noriyoshi. Für nichts und wieder nichts hatte Sano bereits Katsuragawas Schirmherrschaft verloren.
Heute hatte er den Glauben an seine Kraft verloren, seine Wünsche in die Tat umzusetzen: die Wahrheit aufzudecken, seine Ehre, sein Amt und seine Selbstachtung zurückzugewinnen, die Schuldigen vor Gericht zu bringen und seinem Vater das Leben zu retten. Als er nun vor dem Tor stand, das zu dem Kanal, der Brücke und der Straße führte, die er schon sein Leben lang kannte, machte er sich das volle Ausmaß seiner Niederlagen und Verluste deutlich.
Ich könnte dem allen hier und jetzt ein Ende machen, sagte er sich. Der Gefahr, den Enttäuschungen, den Schuldgefühlen, der Ungewißheit. Ich bräuchte nur in das Leben zurückkehren, das ich hinter mir gelassen habe, als ich yoriki geworden bin.
Sollte Magistrat Ogyūs Auffassung von Gerechtigkeit doch triumphieren! Die wirklichen Opfer – Noriyoshi, Yukiko, Tsunehiko und Raikō – kümmerte es ohnehin nicht mehr. Sollten doch Toda und seinesgleichen den Shōgun so beschützen, wie sie es für richtig hielten! Solche Dinge brauchten Sano nicht mehr zu beschäftigen.
Doch diese Grübeleien verstärkten nur seinen Kummer. In seinem Innern sträubte sich alles gegen den Gedanken, einfach aufzugeben, wenngleich die Vernunft ihm sagte, daß es das einzig Richtige wäre. Ein Gefühl der Trostlosigkeit überkam ihn, als er darüber nachdachte, daß er diesen Abschnitt seines Lebens zwar beenden konnte, für den Rest seines Lebens aber mit den Konsequenzen würde leben müssen.
Sano schüttelte diese Gedanken ab. Er ging durchs Tor und schlug den Weg zum Haus seiner Eltern ein; denn er wußte nicht, wohin er sonst hätte gehen sollen. Vielleicht würde er morgen darüber nachdenken, wie er seine Ehre retten und seinem Vater Wiedergutmachung leisten konnte – und den alten Mann dadurch vor dem Tod bewahren.
Als er über die Brücke ging, erregte wildes Gebell seine Aufmerksamkeit, das von irgendwo unter der Brücke erklang. Er schaute über das Geländer. Schlammiges braunes Wasser floß träge zwischen kurzen, steilen, von Sträuchern bewachsenen Uferbänken hindurch, die von hohen Holzzäunen begrenzt wurden. Unten am Fluß, unter einer wuchernden Weide, sprangen drei Hunde einander an, knurrten und schnappten nach einander. Der größte von ihnen, ein Tier mit glänzendem schwarzem Fell, schien irgend etwas zu bewachen, das teilweise von den Ästen der Weide verborgen wurde. Hinter den Ästen und dem schwarzen Hund konnte Sano einen bleichen, unbestimmbaren Schemen ausmachen. Er wandte sich ab, um weiterzugehen. Vermutlich hatten die halb verhungerten Tiere einen Artgenossen getötet und balgten sich nun um den Kadaver. Und das Hundeschutzgesetz untersagte es jedem, sich in diesen Kampf einzumischen. Doch es bestand auch die Möglichkeit, daß ein Kind im Kanal ertrunken war. Falls das zutraf, mußte Sano die Hunde verscheuchen, bevor der Leichnam unkenntlich wurde, nachdem die Tiere erst mit ihrem gräßlichen Mahl begonnen hatten.
Sano beschloß, nachzusehen. Falls es der Leichnam eines Kindes war, mußte er ihn bergen und versuchen, die Eltern ausfindig zu machen.
Er rannte zum Ende der Brücke und schlitterte die Uferböschung hinunter. Dann suchte er sich einen Weg über den Streifen schlammigen Bodens, der sich zwischen dem Wasser und dem Fuß der Böschung befand. Kurz vor dem Weidenbaum blieb Sano wie angewurzelt stehen. Entsetzen und Unglaube trieben ihm eine Lanze aus Eis durchs Rückgrat, als er starr vor Schreck dastand und auf das blickte, das vor ihm lag.
Der schwarze Hund stand knurrend vor dem nackten Körper einer kleinen, dünnen Frau mit wirrem schwarzem Haar und rundem Gesäß. Sie lag auf dem Bauch, einen Arm an die Seite gedrückt; der andere war nach oben ausgestreckt und angewinkelt, so, als wollte sie mit der Hand den Kopf berühren – nur hatte sie keine Hände mehr. Beide Arme endeten in blutigen Stümpfen; die Hände waren an den Gelenken säuberlich abgetrennt. Ihre Beine wiesen sogar noch schrecklichere Wunden auf: Füße,
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