Der Kirschbluetenmord
sicherzustellen, daß Euer Sohn mindestens eines der schweren Verbrechen schuldig ist, die ich ihm zur Last lege«, sagte er mit ruhiger Stimme, ohne auf die anfängliche Frage der Fürstin einzugehen. »Und er ist schuldig; das weiß ich mit Sicherheit.«
»Ach?« Erstaunt hob Fürstin Niu die Brauen. »Und welche Verbrechen sind das?«
Wieviel wußte sie? Konnte er sie überrumpeln, indem er sie mit der vollen Wahrheit über ihren Sohn konfrontierte? Sano versuchte es.
»Der Mord an seiner Halbschwester Yukiko und an dem Künstler Noriyoshi. Der Mord an meinem Schreiber, Hamada Tsunehiko, den Euer Sohn irrtümlich für meine Person gehalten hat. Der Mord an einem bestimmten jugendlichen Samurai. Der Mord an Eurem Dienstmädchen O-hisa. Und vor allem …«
Sano hielt inne, als er sah, daß Fürstin Niu ihn mit einem selbstzufriedenen Lächeln auf den ungeschminkten Lippen betrachtete. Ihre entspannte Haltung ließ deutlich erkennen, daß sie sich nicht die geringsten Sorgen machte. Sie schien kein bißchen überrascht zu sein oder bestürzt oder gar schockiert.
»Ihr wißt das alles schon«, sagte Sano, ohne das Erstaunen aus seiner Stimme heraushalten zu können. »Ihr wißt, was Euer Sohn getan hat, und es kümmert Euch nicht!«
Das Lächeln Fürstin Nius wurde belustigter, und sie schüttelte den Kopf. »Wirklich, Sano -san, Ihr enttäuscht mich. Wahrscheinlich habe ich Eure Klugheit überschätzt.«
In diesem Augenblick erlebte Sano eine jener plötzlichen, intuitiven Eingebungen, die nur selten geschehen und jeden Menschen in tiefstes Erstaunen versetzen. In Sanos Kopf schwirrten die Gedanken, als er schockiert erlebte, daß unwichtige Tatsachen, die er schlichtweg übersehen hatte, plötzlich ein Muster bildeten, das vollkommen anders aussah als dasjenige, das er aus den scheinbar bedeutsameren Tatsachen zusammengefügt hatte.
Fürst Niu mochte durch seine harten körperlichen Übungen und seine Selbstzucht noch so gekräftigt und gestählt sein – dies änderte nichts an der Tatsache, daß er unter einer körperlichen Behinderung litt. Er konnte einen Mord begehen, gewiß, und er hatte es auch getan. Aber war er auch imstande, sich ohne fremde Hilfe der Leichen Yukikos und Noriyoshis zu entledigen? In der Sommervilla hatten seine Leute ihm geholfen, den Leichnam des Samurai-Jungen zu beseitigen, den er in einem Anflug plötzlicher Wut getötet hatte. Aber vertraute Fürst Niu seinen Männern so sehr, daß er ihre Hilfe auch bei einem vorsätzlichen Doppelmord in Anspruch genommen hätte, bei dem das eine Opfer seine eigene Halbschwester, die Tochter des Daimyō, gewesen war? Bestimmt nicht. Niemals.
Wer hatte Midori ins Kloster von Hakone geschickt? Ihre Stiefmutter, nicht ihr Stiefbruder. Und wer hatte sich bei Magistrat Ogyū über ihn, Sano, beschwert? Fürstin Niu, nicht ihr Sohn. Und da war noch etwas: der seltsam muffige Geruch, den Eii -chan verströmte. Er strömte aus dem kleinen Beutel, den der Diener an einer Kordel um den Hals trug und der vermutlich Heilkräuter enthielt. Jetzt erinnerte Sano sich an diesen Geruch: Er hatte ihn in seinem Herbergszimmer in Totsuka gerochen, in jener Nacht, als Tsunehiko ermordet worden war. Er schaute zu dem riesenhaften Diener hinüber und sah Kratzer an Eii -chan s Händen, die noch nicht verheilt waren – Kratzer, die O-hisa und der Nachtwächter ihm zugefügt hatten, der Sohn des Wirts in Hakone, den Eii -chan erwürgt hatte!
Bislang war Sano der Meinung gewesen, der junge Fürst Niu habe diese Morde verübt, um sich zu schützen. Jetzt wurde ihm klar, daß die Fürstin ihrem Diener Eii -chan die Befehle erteilt hatte, Yukiko, Noriyoshi und O-hisa zu ermorden. Und sie hatte Eii -chan ausgeschickt, auch ihn, Sano, auf der Tōkaido zu ermorden. Weil der Versuch fehlgeschlagen war, hatte die Fürstin für Sanos Entlassung aus dem Amt des yoriki gesorgt und ihm den Mord an O-hisa untergeschoben. Alles, um ihren Sohn zu schützen.
Sano erkannte, daß er zwar das richtige Motiv erkannt, es aber der falschen Person zugeordnet hatte. Voller Staunen schüttelte er den Kopf. Es kam ihm wie ein Wunder vor, daß er doch noch ans Ziel gelangt war und die Wahrheit entdeckt hatte – eine Wahrheit, die jedoch ganz anders aussah, als er erwartet hatte.
»Wie ich sehe, habt Ihr die Wahrheit erraten.« Fürstin Niu lachte mit silberheller Stimme, die in dem stillen Zimmer widerhallte. »Bedauerlicherweise zu spät, als daß es Euch noch etwas nützen
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