Der Kirschbluetenmord
Noriyoshi an seinem Todestag gesehen habe, erwiderte der Mann: »Er ist sehr oft durch dieses Tor gegangen, hinaus und hinein. Wie soll ich mich da erinnern, ob ich ihn an diesem Tag gesehen habe? Außerdem ist er tot. Was spielt es da noch für eine Rolle?«
Sano, der auf diese Auskunft keine passende Erwiderung parat hatte, erkundigte sich geduldig: »Hat vorgestern abend jemand Yoshiwara mit einem Sack oder einem großen Bündel verlassen?« Groß genug, um eine Leiche darin zu verstecken, hätte er gern hinzugefügt. Er hörte, wie Tsunehiko neben ihm aufgeregt zu schnaufen begann, als er gespannt jedes Wort in sich aufnahm. Der Junge glaubte offenbar, nun mitzuerleben, wie ein yoriki sein Amt ausübte. Hoffentlich begreift er nicht, um was es wirklich geht, dachte Sano. Sonst könnte es gefährlich werden, falls er jemandem von unserer Reise erzählt.
Der zweite Posten schnaubte. Anders als die Torwächter in Edo hielten er und sein Kollege – der das Symbol der Tokugawas auf den Ärmeln aufgestickt hatte, das dreifache Stockrosenblatt – es offenbar nicht für nötig, sich einem städtischen Beamten gegenüber höflich zu verhalten. »Schon möglich«, beantwortete der Posten Sanos Frage und fügte in herablassendem Tonfall hinzu: »Aber wir haben noch sehr viel anderes zu tun, als bloß sämtliche Lastenträger im Auge zu behalten, yoriki. «
Beispielsweise müßt ihr dafür sorgen, daß keine Frauen aus Yoshiwara fliehen können, dachte Sano. Fast alle yūjo – Kurtisanen – waren als junge Mädchen von ihren verarmten Familien an Bordellbesitzer verkauft worden, oder man hatte sie als Strafe für ein Verbrechen nach Yoshiwara geschickt. Doch während einige wie Prinzessinnen in den Freudenhäusern residierten, in prunkvollen Zimmern und von mächtigen, reichen Männern verehrt, führten andere, von grausamen Herrn mißhandelt, ein erbärmliches Leben. Oft versuchten diese Mädchen, als Dienerinnen oder Jungen verkleidet, durch die Tore zu fliehen. Schon deshalb waren die Torwächter weniger aufmerksam, was das Kommen und Gehen von Lastenträgern oder Männern betraf, die sie kannten.
»Ich möchte ja nicht respektlos erscheinen«, fuhr der Posten in einem Tonfall fort, der seine Worte Lügen strafte, »aber Ihr versperrt das Tor. Wollt Ihr nun hindurchgehen oder nicht?«
»Vielen Dank für Eure Hilfe«, sagte Sano. Als er und Tsunehiko die Nakano-chō betraten, die Hauptstraße, blickte Sano sich aufmerksam um. Er war schon oft in Yoshiwara gewesen: als kleiner Junge zur Sommerzeit, wenn er und seine Eltern sich anderen Familien aus Edo angeschlossen hatten, um sich die prächtigen Umzüge der yūjo anzuschauen. Und später, als Student, war er mit Freunden durch die Straßen gezogen und hatte die schönen yūjo mit den Augen verschlungen. Doch seit seinem letzten Besuch waren Jahre vergangen. Die Preise für Speisen, Getränke und weibliche Gesellschaft waren ihm viel zu hoch, und die Notwendigkeit, sich seinen Lebensunterhalt verdienen zu müssen, ließ ihm keine Zeit für die lange Reise hierher und zurück nach Edo – von den Stunden, die er beim Reiswein und den Frauen verbringen würde, ganz zu schweigen.
Sano stellte fest, daß einige Dinge so geblieben waren, wie er sie in Erinnerung hatte, andere hingegen nicht: Die Reihen der Holzgebäude waren ihm noch vertraut, ebenso die schreiend bunten Schilder vor den Teehäusern – in denen jedoch kein Tee, sondern Sake ausgeschenkt wurde –, die Läden, Eßlokale und Bordelle. Auch an den Gestank nach schalem Wein und Urin, der in der Luft lag, konnte Sano sich erinnern. Doch das Vergnügungsviertel war größer geworden. Wenngleich die Mauer dem Wachstum eine Grenze setzte, hatten neue Läden die Lücken zwischen den älteren gefüllt. Sanos letzter Besuch in Yoshiwara hatte an einem Abend stattgefunden; damals hatten leuchtende Papierlaternen von den Dachvorsprüngen gehangen, und hinter den vergitterten, käfigartigen Fenstern an den Frontseiten der Freudenhäuser hatten wunderschöne Kurtisanen mögliche Freier angelockt. Jetzt, an diesem Nachmittag, brannten keine Laternen, und hinter den Gittern vor den Fenstern der Bordelle hatte man Schirme aus Bambus heruntergezogen, um den Blick ins Innere zu verwehren, denn die Häuser wiesen die unvermeidlichen Zeichen des Alters auf: vergilbter Stuck, abgetretene Türschwellen, angedunkelte Säulen aus Holz.
Natürlich trug auch die Jahreszeit dazu bei, daß Yoshiwara dermaßen trist erschien. Die
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