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Der Kirschbluetenmord

Der Kirschbluetenmord

Titel: Der Kirschbluetenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Ausdruck. Das große, luftige Zimmer spiegelte ihren hohen Status wider und hob ihre Schönheit hervor. Es war luxuriös eingerichtet: Futon und Decken aus Seide; Vitrinen und Schränke, mit Einlegearbeiten aus geschnitztem Lack verziert; bemalte Laternen. In der Nische stand ein Zweig getrocknetes Wintergrün in einer cremefarbenen Vase, die sichtlich das Werk eines meisterlichen Töpfers war; an der Wand darüber hing eine Schriftrolle mit klassischen chinesischen Versen in der unverkennbaren Handschrift eines berühmten Kalligraphen aus Kyoto.
    »Ich bin wegen Eures Freundes gekommen, Herrn Noriyoshis«, sagte Sano und blickte wieder die junge Frau an, nachdem er sich im Zimmer umgeschaut hatte.
    Wisteries schimmernde, helle Augen schienen sich zu verdüstern. Abrupt wandte sie sich wieder zum Spiegel über dem Schminktisch um, nahm einen Kamm und begann, sich die Frisur zurechtzumachen. Sie kämmte die lange, schimmernde Fülle ihres schwarzen Haares an den Seiten zurück und flocht sie im Nacken zu einem komplizierten Knoten. Ihre Bewegungen besaßen etwas Träges, Sinnliches, das auf Sano höchst erregend und erotisch wirkte, und mochte er sich noch so sehr mit dem Mordfall beschäftigen.
    »Ich habe nicht die Absicht, mich über Noriyoshi zu unterhalten. Außerdem erwarte ich einen Gast«, sagte Wisterie. »Also geht. Sofort.«
    Ihre Stimme war traurig und ohne jede Feindseligkeit. Sano erkannte, daß nicht Zorn, sondern Kummer der Grund für ihre Abweisung war. Er zögerte, denn er wollte ihr keinen Schmerz zufügen. Doch er wollte nicht gehen, ohne erfahren zu haben, was diese Frau wußte.
    Wisterie schleuderte den Kamm zu Boden und blickte Sano an. »Was ist? Worauf wartet Ihr noch?« Tränen funkelten in ihren Augen. »Wenn Ihr gekommen seid, um mir zu sagen, daß Noriyoshi aus Liebe zu dieser kleinen dummen Gans aus der besseren Gesellschaft Selbstmord begangen hat und daß seine Leiche am Ufer zur Schau gestellt werden soll, damit die Leute sie begaffen können … nun, das weiß ich bereits. Diese Geschichte hat sich im ganzen Viertel herumgesprochen. Also, geht jetzt. Laßt mich in Ruhe.«
    Sano beschloß, Wisterie soviel von der Wahrheit zu sagen, wie er vertreten konnte. »Noriyoshi hat sich nicht selbst getötet. Er wurde ermordet.«
    Sie starrte ihn an. Es wurde so still, daß beide die Geräusche aus dem angrenzenden Zimmer hören konnten: die Klänge einer Shamizen, die von einer weiblichen und einer männlichen Stimme begleitet wurden. Auf Wisteries Gesicht zeigte sich zuerst Unglaube, dann aufkeimende Hoffnung.
    »Ermordet?« Ihre Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Ist das möglich? Woher wollt Ihr das wissen?«
    »Das kann ich Euch nicht sagen«, erwiderte Sano. Er wußte nicht, ob er der Frau trauen konnte, und er wollte vermeiden, daß die Geschichte von der Leichenöffnung sich in ganz Yoshiwara verbreitete. »Aber es ist die Wahrheit.« Er kniete neben ihr nieder. »Ich möchte herausfinden, warum Noriyoshi ermordet wurde und von wem. Werdet Ihr mir dabei helfen?«
    »Wie?«
    »Erzählt mir alles, was Ihr über Noriyoshi und seine Familie wißt. Was für ein Mann er gewesen ist, wer seine Feinde waren, und warum einer dieser Feinde seinen Tod gewollt haben könnte.«
    Wisteries Augen blickten plötzlich in weite Fernen. Sie strich sich mit den Fingern durchs Haar. Vielleicht war es nur eine Geste der Nervosität, doch selbst diese Bewegung ließ Sano – wie alles an dieser Frau – an körperliche Liebe denken: der schwache, blumige Duft, den sie verströmte; ihr rosiger Mund; das prächtige Zimmer mit dem Bett, das bereit war, den nächsten Liebhaber aufzunehmen. Als Sano Wisteries schlanke, zarte Hände betrachtete, stellte er sich vor, wie diese Hände seinen Körper liebkosten. Unruhig trat er von einem Fuß auf den anderen. Im Zimmer kam es ihm plötzlich sehr warm vor.
    »Alle Leute glauben, daß Noriyoshi ein Arbeitswütiger gewesen ist, der sich nur für seine Geschäfte und für sich selbst interessiert hat«, sagte Wisterie. »Man braucht nur seinen Namen zu nennen, und die Leute machen so.«
    Sie blickte über die Schulter, als wollte sie sich vergewissern, daß sie nicht beobachtet wurde. Dann lächelte sie verschmitzt und tat so, als würde sie mit der Rechten Geldmünzen von einer unsichtbaren Hand nehmen und sie eine nach der anderen in die Handfläche ihrer Linken fallen lassen. Diese ordinäre Geste paßte nicht zu ihrem gepflegten, vornehmen Erscheinungsbild, doch

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