Der Kirschbluetenmord
sie vermittelte Sano einen flüchtigen Eindruck, wie Noriyoshi gewesen sein mußte.
»Aber zu mir war er anders.« Wisterie hielt inne; dann fuhr sie mit gesenkter Stimme fort: »Als ich zehn Jahre alt war, bin ich aus der Provinz Dewa nach Edo gekommen. Mein Vater verkaufte mich an einen Bordellbesitzer, weil er in dem Jahr Mißernten hatte und kein Geld mehr besaß, um meine Mutter, meine vier Brüder und mich zu ernähren. Ich habe hier, im Palast des Himmlischen Gartens, als Aushilfsmädchen angefangen. Wißt Ihr, was das bedeutet?«
Sano nickte. Diese blutjungen Mädchen wurden in Freudenhäusern praktisch wie Sklaven gehalten, sofern sie nicht außerordentlich vielversprechend aussahen. Sie mußten lange und hart schuften: als Reinigungsfrauen, als Küchenhelferinnen und als Laufbotinnen; sie erhielten einen erbärmlichen Lohn und hausten in schäbigen Unterkünften. Viele starben, bevor sie das Erwachsenenalter erreichten; die meisten anderen brachten es allenfalls bis zum Hausmädchen oder wurden zu zweitklassigen Prostituierten. Nur wenige schafften den Aufstieg zur gefeierten yūjo, und die allerwenigsten erlangten die Freiheit von den Männern, deren persönlicher Besitz sie waren.
»Ein Jahr später habe ich Noriyoshi kennengelernt, als er hierher kam, um ein paar shunga für die Damen zu liefern, die sie dann den Kunden zeigen konnten. Er kam auf einen Becher Tee in die Küche. Ich war gerade damit beschäftigt, Gemüse zu putzen.« Ein wehmütiges Lächeln umspielte Wisteries Lippen. »Er hat mich nach meinem Namen gefragt und woher ich käme. Er muß gesehen haben, wie hungrig ich gewesen bin; ich war bis auf die Knochen abgemagert.« Sie berührte die weiche, zarte Haut über dem Schlüsselbein. »Und die Haare fielen mir aus. Von diesem Tag an hat Noriyoshi mir immer etwas zu essen gebracht, wenn niemand es beobachten konnte. Ich hatte Angst, daß er irgendwann nicht mehr käme, aber er kam jeden Tag. Und ich wurde wieder gesund. Mein Haar wuchs nach. Dann machte Noriyoshi es sich zur Gewohnheit, mich zu begleiten, wenn ich das Haus verließ, um Einkäufe oder Botengänge zu erledigen. Er war ein humorvoller Mann, der mich zum Lachen gebracht hat, der mir den Mut zum Leben zurückgab. Und er hat mich gelehrt, wie man sich bewegen muß, wie man lächeln muß und wie man mit Männern redet. Offenbar war ich eine gute Schülerin, denn eines Tages sagte mein Besitzer zu mir, daß ich nicht mehr in der Küche arbeiten müsse. Die Hausmädchen mußten mir elegante Kleidung beschaffen und sie mir dann anprobieren. Und von da an …«
Mit einer weit ausholenden Handbewegung wies sie durchs Zimmer, dann zeigte sie auf sich selbst. »Den Rest der Geschichte könnt Ihr Euch denken.«
»Ja.« Sano konnte sich vorstellen, wie Noriyoshi mit den Augen des Künstlers die wahre Schönheit Wisteries entdeckt hatte. Er hatte sie vor einem harten Schicksal bewahrt. Aber nicht aus Selbstlosigkeit: Ohne Zweifel hatte er dafür gesorgt, daß Wisterie ihre Schuld bei ihm beglich, indem sie sich ihm hingab. Sanos Blick schweifte zum Ausschnitt des Kimonos, wo der Ansatz ihrer Brüste zu sehen war. Das Blut schoß ihm in die Lenden. Für einen Augenblick beneidete er den Toten beinahe.
Doch Wisteries scharfer Blick wies ihn stumm zurecht.
»Ich weiß, was Ihr denkt«, sagte sie schroff. »Aber so war es nicht. Noriyoshi ist nie mein Liebhaber gewesen. Er hat Männer bevorzugt, müßt Ihr wissen.«
Das konnte eine Erklärung für die Skizze sein, die Sano auf Noriyoshis Arbeitstisch gesehen hatte; der Entwurf für das erotische Bild, das zwei Männer zeigte.
»Als ich von seinem Tod hörte, war ich wütend«, sagte Wisterie traurig. »Nicht, weil er sich in dieses Mädchen verliebt oder weil er sie begehrt hatte, wie er mich nie begehrt hat. Nein, ich war wütend, weil er es mir nie erzählt hat. Noriyoshi hat sich mir nie anvertraut. Aber … er hat sich auch sonst niemandem anvertraut. Und jetzt, wo Ihr sagt, daß er ermordet wurde« – sie schluckte –, »schäme ich mich meiner Wut so sehr.«
Sano schaute taktvoll zur Seite, als das Mädchen sich gegen die Tränen wehrte. Sie wollte ihm gerade erzählen, wer Noriyoshis Feinde waren, als jemand an die Tür klopfte.
Wisterie sprang auf. »Rasch, rasch!« Sie öffnete die Tür eines Schranks und bedeutete Sano, hineinzusteigen. »Das ist mein Kunde. Er darf Euch hier nicht sehen.«
Aus dem dunklen Innern des Schranks hörte Sano, wie Wisterie die Eingangstür
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