Der Kirschbluetenmord
trieben, und überdachte seine nächsten Schritte.
Jetzt, wo sein Zorn sich abgekühlt hatte, konnte er Ogyūs Einstellung besser verstehen. Beim Tod von Yukiko und Noriyoshi hatte in der Tat alles für einen Doppelselbstmord gesprochen. Und nur einer rätselhaften Kopfverletzung Noriyoshis wegen konnte Ogyū schwerlich die Untersuchungen im Rahmen eines Mordfalles rechtfertigen – ebensowenig aufgrund der Tatsache, daß Noriyoshi homosexuell gewesen war oder daß er sich Feinde gemacht hatte.
Sano mußte zugeben, daß die Indizien, die er Ogyū vorgebracht hatte, zu dürftig gewesen waren. Er konnte es dem Magistraten nicht einmal zum Vorwurf machen, eine dermaßen drastische Abschreckungstaktik angewendet zu haben, um eine mögliche Katastrophe abzuwenden. Sano sah ein, daß er einen hieb- und stichfesten Beweis für die Morde finden mußte. Einen Beweis, den weder Ogyū noch die Nius ignorieren konnten. Einen Beweis, für den sie ihm aus tiefstem Herzen danken mußten.
Seufzend erhob er sich. Um diesen Beweis zu finden, müßte er erneut Ogyūs Befehle mißachten. Außerdem würde er bei seinen Nachforschungen möglicherweise herausfinden, daß die Nius mit dem Verbrechen zu tun hatten – und daß Ogyū mit ihnen unter einer Decke steckte und ihnen Rückendeckung gab. Diese Aussicht behagte Sano ganz und gar nicht; in diesem Fall nämlich konnten er selbst und seine Familie in höchste Gefahr geraten.
Doch irgendwie – beinahe ohne daß Sano es bemerkt hätte – war das Verlangen, die Wahrheit aufzudecken, erneut in ihm erwacht, bis es so stark wurde, daß es die Verpflichtungen gegenüber seinem Vater, seinem Gönner Katsuragawa Shundai und seinem Vorgesetzten Ogyū aufwiegen konnte. Hinzu kam das unbestimmte, aber starke Gefühl, Wisterie und Doktor Itō etwas schuldig zu sein. Wisteries Aussagen und die Liebe, die sie ihm geschenkt hatte … das Wagnis, das Doktor Itō bei der Leichenöffnung Noriyoshis eingegangen war – beide hatten ihm viel gegeben, und er stand in ihrer Schuld.
Die Erkenntnis, daß er bereit war, fast alles aufs Spiel zu setzen, um seine Pflicht zu erfüllen, traf Sano fast wie ein Schock. Und sein Verlangen, die Wahrheit zu finden, speiste eine Quelle der Kraft und des Wagemuts in seinem Innern, von deren Existenz er bislang nichts gewußt hatte. Diese Erkenntnis ängstigte ihn mehr als die Gefahr, sein Amt zu verlieren. Denn es war unendlich viel schlimmer, vom Weg des Kriegers und den damit verbundenen Geboten der unerschütterlichen Treue und des unbedingten Gehorsams abzuweichen; dies hätte Folgen, die Sano sich nicht einmal vorstellen konnte.
Als er sich auf den Weg zu den Stallungen machte, sprach Sano sich Mut zu. Er sagte sich, daß seine Nachforschungen über den rätselhaften Mordfall ihm keine Nachteile einbringen würden, wenn er behutsam genug vorging. Kikunojō zu vernehmen konnte ihn eigentlich nicht in Gefahr bringen. Und wenn er Glück hatte, würden Magistrat Ogyū und Fürstin Niu erst von seinen verbotenen Aktivitäten erfahren, wenn er Ergebnisse vorweisen konnte.
Sano versuchte, seine Befürchtung zu verdrängen, daß die Nius und Ogyū sich in jedem Fall gegen eine Untersuchung wehren würden – egal, welche Beweise er ihnen vorlegte …
Als Sano in das Theaterviertel Saruwaka-chō gelangte, hob seine Stimmung sich beträchtlich. Das Viertel lag in der Nähe von Ginza, einem Stadtbezirk Edos, und war nach der Silbermine benannt, welche die Tokugawas dort errichtet hatten. Das milde Wetter des Vortages hielt an, und der gemächliche Ritt erinnerte Sano an die Ferienzeiten in seinen Kindertagen, als die Familie, zusammen mit Freunden und Verwandten, ganze Tage im Theater verbracht hatte. Sie waren in der Morgendämmerung eingetroffen, wenn die Vorstellungen begannen, und hatten sich erst bei Sonnenuntergang, nach Ende der letzten Aufführung, auf den Heimweg gemacht. Sanos Vater, der – wie viele ältere Samurai – das klassische No-Drarria bevorzugte, hatte sich über die melodramatischen Kabuki-Stücke beklagt, wenngleich er sie voller Spannung verfolgte. Sano erinnerte sich auch an Ausflüge, die nicht so lange Zeit zurücklagen, als die Theater ihm und anderen jungen Männern die Möglichkeit geboten hatten, mit Mädchen zu flirten, die ebenfalls die Vorstellungen besuchten. Doch in den letzten fünf Jahren hatte die Arbeit ihm nur wenig Zeit für solche Zerstreuungen gelassen. Jetzt schaute Sano sich mit wehmütigen Erinnerungen im Theaterviertel
Weitere Kostenlose Bücher