Der Kirschbluetenmord
um.
Wie in den alten Zeiten funkelte Saruwaka-chō von Farbe und Leben. Auf Plakaten an den Wänden der vier größten Theater standen die derzeitigen Spielpläne. Hin und wieder brandeten Geräusche auf: die Stimmen von Sängern, Jubelrufe oder Beifall, die aus den Fenstern hoch droben unter den Dachfirsten der Theatergebäude drangen und erkennen ließen, daß eine Aufführung stattfand. In kleinen, viereckigen Türmen, die sich auf den Dächern befanden, wurden in regelmäßigem, dumpfem Rhythmus Baßtrommeln geschlagen, um Besucher aus entfernten Stadtteilen herbeizulocken. Menschen aus allen Gesellschaftsschichten und Altersgruppen strömten durch die breiten Straßen, standen vor den Kassenhäuschen an den Theatereingängen, besuchten die vielen Teehäuser und Eßlokale, welche die Lücken zwischen den Theatergebäuden ausfüllten, oder standen plaudernd beieinander. Sano wußte, daß einige dieser Leute die ganze Nacht gewartet hatten, um einen guten Platz zu bekommen, damit sie sich ihre Lieblingsschauspieler aus nächster Nähe anschauen konnten.
»Wo tritt Kikunojō auf?« fragte Sano den Wärter des Mietstalles, in dem er sein Pferd unterstellte.
Der Wärter zeigte in die Richtung, in der sich das größte Theater befand, und sagte: »Im Nakamura-za.«
Sano bahnte sich einen Weg durch die Menschenmassen. Als er das Nakamura-za erreichte, sah er die Schilder, die vor dem Theater aufgestellt waren: »Namkami – in der Hauptrolle: der große Kikunojō!« Zu Sanos Enttäuschung stand keine Warteschlange vor dem Kassenhäuschen. Offensichtlich hatte die Vorstellung bereits begonnen.
»Kann ich jetzt noch hinein?« fragte er den Billettverkäufer, doch ohne große Hoffnung. Narukami – die Geschichte einer Prinzessin, die Japan vor einem verrückten Mönch rettet, der durch einen Zauber bewirkt, daß kein Regen mehr fällt – war ein beliebtes Stück. Und mit Kikunojō als Hauptdarsteller war jede Vorstellung so gut wie ausverkauft, egal, welches Stück gegeben wurde.
Doch der Billettverkäufer nickte. Er nahm Sanos Geld, reichte ihm die Eintrittskarte und sagte: »Es sind noch Plätze frei, Herr. Das Stück wird hier seit Monaten aufgeführt; fast jeder hat es schon gesehen.«
Als Sano das Theater betrat, hielt er für einen Augenblick inne, um sich zu orientieren. In dem großen Saal, der nur von den Fenstern unter dem Dach und hinter der Galerie erhellt wurde, war es schummrig; aufgrund der Feuerschutzgesetze war künstliche Beleuchtung im Innern verboten. Als Sanos Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, konnte er die unbeleuchteten Laternen erkennen, die von den Dachbalken hingen. Auf jedem Laternenschirm war das Wappen eines Schauspielers abgebildet, der im Nakamura-za aufgetreten war. Frauen und gemeine Bürger nahmen die schlechteren Plätze an den Wänden und den hinteren Rängen ein. Trennwände teilten den Bereich unmittelbar vor der Bühne in quadratische Logen; hier waren die meisten Zuschauer Samurai, wie die rasierten Scheitel und die Griffe der hochgeschobenen Schwerter erkennen ließen, die über die Trennwände hinausragten. Erfrischungsverkäufer eilten mit Tabletts voller Speisen und Getränken von Loge zu Loge.
Unter den Zuschauern herrschte ruhelose Bewegung, und ihr unaufhörliches Geschnatter übertönte beinahe die Geräusche der Holzrasseln, welche die Musiker schlugen. Sano ging suchend an den Trennwänden entlang, bis er in einer der Logen einen freien Platz entdeckte. Er kniete sich zu fünf anderen Samurai auf die Fußbodenmatte und wandte seine Aufmerksamkeit dem Geschehen auf der Bühne zu. Die Aufführung näherte sich dem Ende. Vor dem Hintergrund des gemalten Bühnenbilds, das Berge und Wolken zeigte, sang der Schauspieler, der den verrückten Mönch Narukami darstellte, von dem Chaos, das er übers Land bringen würde, indem er ihm den Regen vorenthielt. Seine Maske mit den riesigen schwarzen Augenbrauen und dem buschigen Backenbart verlieh ihm ein dämonisches Aussehen. Auf dem glänzenden rot-goldenen Priesterumhang, den er über seiner braunen Mönchskutte trug, schimmerte das trübe Licht. Er brüllte jedes Wort mit donnernder Stimme heraus, um die Geräusche im Publikum zu übertönen; dazu stampfte er laut mit den Füßen, schritt hektisch auf und ab und gestikulierte wild, um sich der Aufmerksamkeit der Zuschauer zu versichern. Die Musiker saßen zu beiden Seiten der Bühne und spielten eine mißtönende Begleitmusik auf ihren Rasseln, Flöten und
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