Der Klabautermann
Herr Kapitän. Nicht die geringsten Anzeichen. Ich möchte sagen: Wir haben jetzt einen ganz klaren Beweis, daß sich ein blinder Passagier an Bord befindet. Er hat kein Messer bei sich – was muß er also tun? Alles, wozu man ein Messer braucht, mit den Zähnen bearbeiten.«
»Das stimmt.« Hellersen nickte. »Aber nichts ist leichter an Bord, als ein Messer zu klauen. Überall liegen sie herum. Irgendwo ist immer gedeckt. Messer, Gabel, Löffel sind kein Problem. Und wer Bier austrinkt oder von der Bordbäckerei Obsttörtchen klaut, für den ist doch ein Messer kein unerreichbarer Gegenstand.«
»Vielleicht denken wir simpler als der Unbekannte, der sich hier versteckt hält.«
»Wer Schals verknotet und Büstenhalter als Fahne hißt, denkt nicht simpel!« Hellersen setzte sich auf die Kante seines Schreibtisches und fühlte wieder diese verdammte Hilflosigkeit. »Streichen wir also Konsul Fehrenwaldt von der Liste. Endgültig. Er war ja nur unser Strohhalm, an den wir uns klammern wollten. Dann bleibt die alte These von Dr. Schmitz übrig: Wir haben zwei Unbekannte als Gegner: Der ›Blinde‹, der sich Essen stiehlt, und das Phantom, das Mützen wegnimmt, mit Taurollen wirft, BHs hißt, Manuskripte zerfetzt und Damen mit einem schrecklichen Gelächter in einen Schock versetzt. Ich meine, das reicht.«
»Und ich möchte behaupten, daß wir beide Gesuchte nicht finden werden. Der eine wird in Singapur von Bord gehen, der andere in Hongkong am Ende dieser Reise. Einen Schizophrenen unter 600 Passagieren herauszufinden, ist unmöglich, wenn er nicht vor Publikum seinen Schub bekommt.«
»Aber ab Singapur werden wir wissen, genau wissen, ob es tatsächlich zwei Personen sind. Falls dort der ›Blinde‹ von Bord gegangen ist, hört das Stehlen auf, aber die anderen Streiche – nennen wir sie mal so – müßten dann weitergehen bis Hongkong.«
»Logisch gedacht, ja.«
»Schöne Aussichten.« Hellersen begann, in dem großen Zimmer hin und her zu gehen. »Woran erkennt man einen Schizophrenen?«
»Ich bin Kieferchirurg, aber kein Psychiater, Herr Kapitän. Was sagt Kollege Schmitz zu dieser Frage?«
»Wenn er sich nicht unbedingt merkwürdig benimmt … aussichtslos. Ein Schizophrener kann sich tagsüber wie der normalste Mensch verhalten, aber nachts – das soll vorkommen – wird er zum Schrecken.« Dr. Schmitz ging sogar so weit, von Vampiren zu reden. »Wann wird der Vampir zum Vampir? Nur nachts. Tagsüber kann er ein honoriger Mann sein.«
»Die Geschichte vom Vampir ist genauso ein Schauermärchen wie die vom Klabautermann. Sagen wir lieber: Der unbekannte Kerl ist pervers. Und so was sieht man keinem von außen an.«
Kapitän Hellersen blieb mit einem Ruck vor Dr. Schwengler stehen.
»Was würden Sie an meiner Stelle tun, Doktor? Sie sind ein klar denkender Mensch; ich bin jetzt viel zu vorbelastet, um noch nüchtern denken zu können. Was würden Sie tun?«
»Nichts.«
»Das ist ja 'ne Menge!«
»Ohne Spott, Herr Kapitän. Wirklich nichts … Den blinden Passagier würde ich nicht daran hindern, sich sein Essen zu stehlen. In Singapur ist ja voraussichtlich doch alles vorbei. Und was den Verrückten angeht, so würde ich in aller Ruhe und Gelassenheit warten, bis er sich selbst verrät. Und auch dieser Spuk ist spätestens in Hongkong ausgestanden. Es ist ja ein harmloser Irrer.«
»Bis jetzt, Doktor!« Hellersens Gesicht war voller Sorgenfalten. »Die Taurolle war schon ein tätlicher Angriff. Auch das Zerfetzen von Hallaus Manuskript möchte ich nicht so einfach zur Seite schieben, das war ebenfalls eine zerstörerische Tat. Wie wird es weitergehen? Soll ich gelassen warten, bis vielleicht ein Mord geschieht? Halten Sie einen Mord für absolut ausgeschlossen?«
»Wer wagt da eine Prognose?« sagte Dr. Schwengler vorsichtig. »Bei Geisteskranken muß man immer mit Gewalttätigkeiten rechnen.«
»Na, sehen Sie! Und ich soll hier sitzen und Däumchen drehen? Ich bin der Kapitän, ich bin verantwortlich für das Wohl von 600 Passagieren und 350 Besatzungsmitgliedern. Wenn unter ihnen ein Mörder ist …«
»So weit sind wir noch nicht, Herr Kapitän.«
»Aber ich befürchte, eines Tages stehen wir vor einem Ermordeten. Im Benehmen des Unbekannten ist eine Steigerung auszumachen: Zuerst klappt er nur Liegestühle zusammen, jetzt ist er schon dabei, meinen Leitenden Ersten mit einer Taurolle fast zu erschlagen. Das ist doch alarmierend!«
»Und wir können nichts tun, als warten.«
»Das
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