Der Klang Deiner Gedanken
denke, wie du deiner Mutter vorgeheult hast, dass du keine kriegst, werde ich jetzt noch ganz traurig.“
Bei der Erinnerung daran, wie sie – und das auch noch vor Daisy – eine Szene gemacht hatte, drehte sich Allies Magen um.
„Oh wow, ist das neu?“ Daisy nahm das Kreuz in die Hand. „Das ist aber schön.“
„Nicht wahr? Walt hat es mir aus England geschickt.“
„Und was hast du von Baxter bekommen?“
„Ohrringe.“ Allie musste an ihre Erleichterung darüber denken, was nicht in der kleinen Schachtel gelegen hatte.
Daisy blickte verwirrt von einem nackten Ohr zum anderen.
„Ich habe keine Ohrlöcher.“
„Und das wusste er nicht?“ Daisy verdrehte die Augen. „Typisch Mann.“
Allie wollte nicht kleinlich sein, aber Walt hatte bemerkt, dass sie keine Kette mit Kreuz besaß, während Baxter die fehlenden Ohrlöcher nicht aufgefallen waren.
Cressie kam mit einer weißen Torte zurück und Allie durfte auf dem Ehrenplatz sitzen, einem türkisfarbenen Stoffsessel, über den riesige rote und orangefarbene Hähne stolzierten. Eine Sprungfeder drückte ihr gegen die Hüfte. Sie überkreuzte die Füße, um den Druck zu mildern und stützte einen Ellenbogen auf die Armlehne, auf der ein violettes Zierdeckchen lag. Ein violettes Zierdeckchen. Wo hatte Cressie so eine verrückte Farbe her? Und wieso gerade violett?
Trotzdem beeindruckte Allie Cressies Mut, knallige Zierdeckchen zu verwenden. Cressie machte sich keine Gedanken über Äußerlichkeiten und darüber, was die Leute dachten. Ihr war höchstens wichtig, was Gott dachte.
Was das Backen betraf, war Cressies Geschmack um einiges besser. Die Torte war vorzüglich und Allie meinte die Freundschaft, aus der sie entstanden war, herauszuschmecken.
Cressie schenkte Tee nach. „Ich bitte um Entschuldigung, dass es keinen Kaffee gibt. Ich mag dich sehr, Allie, aber das bisschen Kaffee gebe ich nicht her.“
Allie musste lachen. Kaffee war so rar geworden, dass er ab dem 29. November nur noch mit Lebensmittelkarten zu bekommen sein würde. Die zugeteilte Menge reichte noch nicht einmal für eine Tasse pro Tag. Die anderen Frauen stöhnten über die Rationierung, aber Allie machte Tee nichts aus.
Tee. Ob Walt Tee trank und Fish’n’Chips aß? Ob er schon in London war und den Big Ben, den Tower und den Buckingham Palast gesehen hatte?
Viel zu früh löste sich die fröhliche Runde auf. Allie beschloss noch einen Moment zu bleiben, um sich bei ihrer Gastgeberin zu bedanken. Während sie wartete, bis alle gegangen waren, betrachtete sie ein Foto an der Wand. Ein stattlicher junger Mann im dunklen Anzug sah verträumt eine junge Frau in weißer Hemdbluse und langem, schmalem Rock an. Allie atmete scharf ein. Cressie war noch nicht einmal Durchschnitt gewesen, sondern sie war geradezu unansehnlich – grobe Gesichtszüge, ein breiter Mund und eine Hakennase, dazu buschige schwarze Augenbrauen. Das Alter meinte es gut mit ihr. Die zusätzlichen Pfunde machten ihr Gesicht weicher und die grauen Haare ließen die Augenbrauen nicht mehr so hervorstechen. Eine Schönheit war sie dennoch nicht. Und trotzdem liebte ihr Mann sie abgöttisch – auf dem Foto und auch heute, gut vierzig Jahre später.
„Ich liebe dieses Foto“, sagte Cressie. „Sieht Bert nicht einfach hinreißend aus?“
„Das ist mir auch aufgefallen. Ist das ein Verlobungsfoto?“
Cressie schnaubte. „So was gab’s bei uns gar nicht. Wir haben nur aus der Not heraus geheiratet. Damals war das ganz anders als bei den jungen Leuten von heute. Weißt du, Bert verlor seine Eltern, als er achtzehn war. Er musste sich plötzlich um seine fünf kleinen Schwestern kümmern, um das Haus und ums Geschäft. Er brauchte so schnell wie möglich eine Frau, und ich war die Einzige, die in unserer kleinen Stadt in Kansas zu haben war.“
Allie spürte, wie Hoffnung in ihr aufkeimte. „Dann ist eure Liebe erst gewachsen, nachdem ihr verheiratet wart?“
„Ja. Ich besuchte eine Erweckungsveranstaltung und fand zu Jesus. Stell dir vor, ich, die Tochter des Chorleiters, hatte Gott nie in meinen Dickkopf gelassen. Na ja, und Bert verliebte sich Hals über Kopf in die neue Cressie.“
Allie strich über den polierten Holzbilderrahmen. „War er ... war er denn gläubig?“
„Ach was. Er war ein störrischer junger Esel. Aber ein langes Jahr später hatte Gott Bert am Schlafittchen und ließ ihn nicht wieder los. Und da verliebte ich mich in ihn.“
Allie sagte den Bibelvers auf, den sie
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