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Der Klang Deiner Gedanken

Der Klang Deiner Gedanken

Titel: Der Klang Deiner Gedanken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Sundin
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...
    Sie sollte längst bei der Schneiderin sein. Abrupt blieb Allie stehen und orientierte sich in der Wintersonne. Sie stand Ecke Eighth und Lime. Die Schneiderei von Miss Montclair war zwischen Orange und Lime Street. Miss Montclair hatte ihre Verlobung gelöst. Und jetzt, zwanzig Jahre später, redeten die Leute immer noch darüber.
    Allie seufzte und drehte um. Miss Montclair empfing sie schon an der Eingangstür. „Da bist du ja. Ich habe dich vorbeilaufen sehen. Ihr Bräute seid vielleicht manchmal durcheinander. Na, komm rein. Es liegt alles schon bereit.“ Sie wies Allie einen Stuhl an einem langen Tisch zu, auf dem Ballen von Spitze lagen.
    Miss Montclair hatte ein dunkelgraues Jerseykleid an, das ihre ungewöhnlichen grauen Augen noch besser zur Geltung brachte. Das von Silbersträhnen durchzogene schwarze Haar hatte sie in ein Haarnetz gesteckt. Sie legte Allie Skizzen von Hochzeitskleidern vor, allesamt elegant und modisch, und Allie zeigte auf die Skizze in der Mitte, weil sie in der Mitte war. Dann hielt Miss Montclair die verschiedenen Spitzenballen neben Mutters Hochzeitskleid, das auf einer Schneiderpuppe hing und erklärte die jeweiligen Vorzüge. Allie nahm den ersten, weil er der erste war.
    „Du bist aber schnell entschlossen.“ Miss Montclair rollte einen Ballen zarter Chantilly-Spitze auf. „Die frisch Verlobten sind sonst immer ganz aus dem Häuschen.“
    „Dafür bin ich nicht der Typ, glaube ich.“ Sie betrachtete die Skizze, die sie ausgewählt hatte – kurze Puffärmel, abgenähte Taille, der Rock mit Seidenapplikationen und Spitzenbesatz in Wasserfalloptik. „Miss Montclair, sind Sie glücklich?“
    „Wie bitte?“
    „Ich ... Verzeihung.“ Allie beugte sich schnell zu ihrer Handtasche hinunter, damit die Schneiderin nicht bemerkte, wie rot sie wurde. „Das war eine persönliche Frage und geht mich überhaupt nichts an.“
    Miss Montclair kicherte. Sie lehnte sich gegen die Tischkante, stützte sich auf die Hände und überkreuzte die Beine an den Knöcheln – ganz wie Katherine Hepburn. „Deine liebe Mutter hat mich nie verstanden. Was möchtest du wissen? Ob ich glücklich bin in meiner tragischen Armut? Oder als alte Jungfer?“
    „Als alte Jung... ich meine ...“ Allies Wangen glühten.
    „Ich weiß, was du meinst. Ja, ich bin glücklich, auch wenn die Leute in Riverside das ganz anders sehen. Und was meine Armut betrifft: Ich wollte sowieso nie einen Abpackbetrieb leiten. Vielleicht hätte ich mein Geld nicht in Aktien investieren sollen, aber dann hätte ich auch nie das hier gehabt.“ Sie breitete die Arme aus und ihre Augen leuchteten wie Sterne. „Ich hätte nie mein Talent fürs Schneidern und Entwerfen entdeckt, meinen Geschäftssinn und den Willen, Träume zu verwirklichen. Und ich wäre ganz bestimmt nicht glücklich, wenn ich den Mann geheiratet hätte, den meine Familie für mich ausgesucht hatte.“
    Allie betrachtete Miss Montclairs Gesicht. Sie machte keine gute Miene zum bösen Spiel; ihre Zufriedenheit war echt.
    „Wieso nicht, fragst du dich?“ Miss Montclair setzte einen amüsierten Blick auf, der die Falten in ihrem Gesicht noch verstärkte. „Kannst du dir ein schlimmeres Schicksal vorstellen, als mit einem Mann zusammenzuleben, den du nicht liebst?“
    Allie versuchte zu schlucken, aber ihre Zunge war wie ein Betonklotz.
    „Oh, ich meine damit nicht die rosarote Brille. Die ist natürlich großartig. Aber sie hält ja nicht ewig vor. Weißt du, in meinem Geschäft kriegt man so einiges mit. Zum Beispiel, dass eine gute Ehe eine stabile Liebe braucht, die durch gegenseitigen Respekt und Freundschaft wächst.“
    Respekt? Freundschaft? Sie respektierte Baxter. Aber als Freund hatte sie ihn noch nie gesehen.
    „Heiratest du denn deinen besten Freund?“ Adleraugen sahen sie von oben prüfend an.
    Ihren besten Freund? Wer war ihr bester Freund? Baxter bestimmt nicht. Betty war vier Jahre lang ihre beste Freundin gewesen, aber mittlerweile schrieben sie sich nur noch Briefe.
    Das war es. Die Briefe. Allies Mund wurde genauso staubtrocken wie das Flussbett des Santa Ana im Sommer. Nach wessen Briefen sehnte sie sich am meisten? An wen dachte sie zuerst, wenn sie etwas zu erzählen hatte? Wer verstand sie am besten? Wer wandte sich zuerst an sie, wenn er Probleme hatte? Mit wem verband sie gegenseitiger Respekt und Freundschaft?
    „Vielleicht ...“ Miss Montclairs Finger spielten mit dem Ärmel von Mutters Kleid. „Vielleicht sollte ich noch

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