Der Klang der Sehnsucht - Roman
besitzen? Er sah den Vaid an, der lächelte und den Kopf ein wenig neigte, als erwarte er eine Antwort von ihm.
»Nein, nicht jeder kann lesen«, erwiderte Kalu. »Die meisten haben gar keine Zeit dazu, weil sie ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. Und wer kann es sich schon leisten, Bücher zu kaufen?«
Vaid Dada hörte auf zu essen.
Der Guruji schaute Kalu an. »Jeder hat im Leben die Wahl und
muss Opfer bringen.« Er machte eine Pause, als warte er darauf, dass Kalu ihn unterbrach.
»Aber –«
»Kein Aber. Nur wer lesen kann, hat auch die Fähigkeit, sachkundige Entscheidungen zu treffen. Es bewahrt dich davor, übers Ohr gehauen zu werden.«
In dieser Hinsicht hatte der Guru recht. Irgendwann einmal hatte Kalu eine Quittung aus dem Vorratsladen aufgehoben, die jemand verloren hatte. Sie hatte nicht den geringsten Sinn für ihn ergeben. Wer lesen konnte, den konnten die Geschäftsleute zumindest nicht betrügen.
Der Guruji setzte seine Mahlzeit fort. »Du wirst bald lesen lernen«, sagte er. »Ich dulde kein ungebildetes Kind in meinem Haus.«
»Ich würde sehr gern lesen lernen, aber … noch lieber möchte ich Flöte spielen lernen«, fügte er hastig hinzu.
»Das kommt alles noch, mein Junge. Wir machen es auf meine Weise. In ein paar Tagen beginnen wir mit deinem Unterricht.«
Flöte oder Lesen?, hätte Kalu gern gefragt. Stattdessen nickte er nur kurz, bevor er sich wieder seiner Mahlzeit zuwandte.
Das war vorgestern Abend gewesen. Kalu ließ den letzten Ton seiner Blattflöte verklingen. Sein Magen knurrte, als wolle er ihn an die seit dem Frühstück verstrichenen Stunden erinnern. Er rückte ein wenig nach links, damit die heiße Sonne auf seinen immer hungrigen Bauch schien. Manches änderte sich nie.
Er verspürte jetzt mehr Energie, aber er konnte wenig damit anfangen. Er war immer gern mit Ashwin zusammen, aber der hatte seine Arbeit. Allmählich fühlte Kalu sich eingesperrt in diesem Haus, auch wenn es ihm hier an nichts fehlte. Er hatte ein Dach über dem Kopf, die Landschaft war schön, und es gab Musik. Und die Verheißung einer Laufbahn als Musiker. Die Grillen machten hier mehr Lärm als die Männer beim Pan
walla, und die Luft war frischer, aber eben nicht so voller Leben wie in Hastinapore.
Kalu schüttelte den Kopf und strich sich die längeren Haarsträhnen aus dem Gesicht. Jammern hatte noch nie jemandem geholfen, wie Malti zu sagen pflegte. Außerdem hatte er andere Sorgen.
Der Vaid würde morgen abreisen, und Kalu würde ihn wie die anderen Freunde aus seinem alten Leben lange Zeit nicht sehen. Bald würde sein neues Leben beginnen. Trotz der sommerlichen Hitze überlief ihn ein kalter Schauer.
*
Kalu konnte nicht schlafen. Er lag in dem Zimmer, das nun seins war. Gekalkte Wände, ein Holzbett und zwei kleine Schränke, beide mit stabilen Metallgittern versehen, um die Ratten fernzuhalten. Der rechte beherbergte die Kleidung, die ihm seine Freunde aus Hastinapore geschenkt hatten. Der andere war für seine Bücher. Er war noch leer und barg die Verheißung auf etwas, das noch bevorstand. Über dem Bett hing ein Moskitonetz, und durch das große Fenster trug eine Brise den Duft des Gartens ins Zimmer. Das Netz bewegte sich leicht, während Kalu sich von einer Seite auf die andere wälzte. Schließlich stand er auf und stieg durch das Fenster auf die Veranda.
Der Beton war kühl, und Kalu rollte sich zwischen ein paar Stuhlbeinen zusammen. Über ihm war das Dach, also rutschte er so lange nach vorn, bis er den Himmel sehen konnte. Fern von den Lichtern der Ortschaft im Tal, funkelten die Sterne hier ebenso hell wie über den Feldern um Hastinapore. Sein Leben dort schien eine Ewigkeit her.
Er konnte den Dhruv-Tara sehen, den Stern, von dem Malti ihm erzählt hatte. Klar und bläulich stand er am Firmament. Ob Dhruv, der Sternenjunge, sich jemals so einsam gefühlt hatte wie Kalu jetzt? Aber die Gewissheit, dass der Stern da war und Malti ihn ebenfalls sehen konnte, tröstete ihn ein wenig. Das
kühle Licht, das der Stern ihm schenkte, war wie ein Band, das seine Vergangenheit mit der Gegenwart verknüpfte. Seufzend schloss Kalu die Augen und dachte an den Abend, an dem Malti ihm die Geschichte von Dhruv erzählt hatte. Er konnte nun ruhiger atmen. Er dachte an Maltis Lachen und schlief endlich ein.
*
Nach einer langen Sitzung mit dem Guruji ging Kalu in die Küche, um sich auszuruhen. Nach zwei Stunden im Schneidersitz fühlte er sich schrecklich steif, und die
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