Der Klang der Sehnsucht - Roman
von Flughäfen und Konzertsälen, kleine Tüten mit Fläschchen, aus denen das Parfüm längst verdunstet war, und noch gefaltete Socken aus Flugzeugen. Außerdem gab es ein besonderes Regal für seine Alben mit Fotos, Zeitungsausschnitten und Souvenirs von den Auftritten des Guruji. Zwischen den Seiten lagen getrocknete und gepresste Blumen. Der ganze Anbau roch nach Papier und alten Erinnerungen.
Als Nächstes erkundete Kalu den Garten. Zuerst am frühen Nachmittag, als die anderen ihre Mittagsruhe hielten, und später in der Kühle der Nacht, als verheißungsvolle Schatten und der süße, betörende Duft nächtlicher Blüten ihn erfüllten. Das Grundstück war mindestens viermal so groß wie das von Ganga Ba und voller Bäume und Pflanzen. Es gab sogar einen kleinen Tempel aus Stein.
Doch es waren weder die üppigen Blumen noch die Bäume oder der weiche Rasen unter seinen Füßen, die Kalu am meisten beeindruckten, sondern die Berge, die so riesig am Horizont aufragten, dass das große Haus und der weitläufige Garten vor diesem Hintergrund winzig erschienen.
Kalu war noch nie in einer von Menschen so unberührten Landschaft gewesen. Vor den Toren des Grundstücks gab es keine Lä
den, ja nicht einmal einen Chaiwalla. Auch waren keine Felder in der Nähe, zumindest keine, die bearbeitet wurden. Und am Morgen stellten sich keine Händler ein, die mit ihrem Geschrei das Hupen der Autos und die Gesänge im Tempel zu übertönen suchten.
Kalu saß gegen die Mauer unter dem Fensterbrett seines Zimmers gelehnt und betrachtete den verlassenen Garten. Das Dorf am Fuß des Hügels lag zu Fuß mindestens zwanzig Minuten entfernt. Die nächste Stadt war nur mit dem Wagen oder dem Fahrrad zu erreichen. Anfangs hatte ihn diese Abgeschiedenheit beunruhigt. Doch nun, da er wusste, wo es ein kleines Seitentor gab, welcher Baum am leichtesten zu erklettern war und wohin alle Türen und Fenster sich öffneten, fühlte er sich recht geborgen an seiner Mauer.
*
Oft saß Kalu auch unter einem großen Baum, der ihn vor der gleißenden Sommersonne schützte. Sie streifte seinen Körper nur hier und da, wärmte ihn, bis er einen Zentimeter weiter rückte und die flimmernden Muster aus Licht und Schatten sich veränderten. Aus der Entfernung hörte er den Guru spielen und bewegte die Finger zur Musik. Er war nun schon zwei Wochen hier, aber der Meister hatte ihm noch immer nicht erlaubt, ihm auf seiner Flöte vorzuspielen.
Er fing ein junges, grünes Blatt auf, das vom Baum segelte, und rollte es fast mechanisch zu einer Flöte zusammen. Er hätte dem Guruji gern bewiesen, dass er ein guter Schüler sein konnte, doch stattdessen hatte man ihm aufgetragen, im Freien herumzutollen, spazieren zu gehen, beim Saubermachen zu helfen und tüchtig zu essen. Das Essen war kein Problem, aber die anderen Aufgaben erschienen ihm sinnlos.
Vaid Dada hatte ihm erklärt, er müsse sich zuerst einmal erholen. »Man kann nicht stundenlang Flöte üben, wenn Körper und Geist zu erschöpft sind, um etwas aufzunehmen.« Kalu
hatte geschwiegen und weiter die Bücher gesäubert, ohne Vaid Dadas scharfen Blick zu bemerken. Er tat gehorsam, was man von ihm verlangte, und hielt den Mund. Anfangs fiel ihm das auch nicht schwer. Aber mit der Zeit bereitete ihm all das Neue, an das er sich gewöhnen musste, doch Kopfschmerzen. Er musste lernen, die Essenszeiten einzuhalten, in Schuhen zu gehen, anständig zu sitzen und sogar ordentlich Staub zu wischen. Die Bücher nahmen so viel Raum ein und mussten so häufig abgestaubt werden, dass Kalu schließlich fand, es wäre eigentlich das Einfachste, sich ihrer zu entledigen.
»Nun, was hältst du von unserem bescheidenen Heim?«, fragte der Guruji seinen neuen Schüler, als sie am Ende der ersten Woche zusammen beim Abendessen saßen. Kalu fand nichts von dem, was er gesehen hatte, auch nur annähernd bescheiden. »Wozu brauchen Sie eigentlich diese ganzen Bücher?«, fragte er.
»Bücher können dich vieles lehren, sie bringen dich an Orte, an die du sonst unmöglich gelangen könntest. Und sie machen alle Menschen gleich«, sagte der Guruji, »denn lesen kann jeder.«
Kalu dachte an die Bücher. Einige waren in Leder gebunden, trugen Goldbuchstaben auf dem Einband, andere waren so alt, dass ihr Einband sich abgelöst hatte und man die Nähte sah, die sie zusammenhielten. Maltis Bruder müsste sich nie wieder ein Buch kaufen, wenn er die alle hätte. Wie es sich wohl anfühlte, so viel zu wissen? So viel zu
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