Der Klang der Sehnsucht - Roman
eine Trillerpfeife gesellte sich zu ihnen und übertönte mit seiner Frage den Schiedsrichter auf dem Feld. »Kannst du nicht spielen?«
»Natürlich kann ich.« Kalu sprang von seinem Ziegel auf und stieß in der Eile mit dem Fuß dagegen. Ein Schmerz durchschoss seinen Knöchel, aber er ließ sich nichts anmerken.
Inzwischen richteten mehr Kinder ihre Aufmerksamkeit auf Kalu als auf das Kricket-Match. »Und was ist mit euch? Was macht ihr hier?«
»Uns lassen sie auch nicht mitspielen. Weil wir entweder Mädchen oder noch zu klein sind.«
»Warum bildet ihr kein eigenes Team?« Es waren genauso viele Kinder am Rand wie auf dem Spielfeld.
»Wir haben doch keinen Ball! Einer aus Plastik kostet mindestens eine Rupie.«
Kalu musterte die Kinder. Sie waren nicht gerade die Freunde, nach denen er ausgezogen war, aber immerhin hatten sie ihn nicht beschimpft. Sie schienen auch nichts dagegen zu haben,
mit ihm zu reden. Der Guruji hatte keine genauen Angaben darüber gemacht, wen er kennenlernen sollte.
»Eine Rupie können wir leicht verdienen, wenn wir alle ein bisschen arbeiten. Jeder muss weniger als zehn Paise verdienen. Warum gründen wir nicht eine eigene Mannschaft?«
Biddu, der Junge hinter den Stäben, glotzte verdutzt, als die Kinder am Spielfeldrand in Jubel ausbrachen. Er konnte sich gerade noch am Hals kratzen, da rannten sie auch schon hinter dem Flötenjungen her und waren im Nu verschwunden.
»Aré, Bowler, pass auf!«, rief Nishal. Biddu nahm wieder seine gebückte Haltung ein. Ohne Zuschauer kam ihm das Spiel viel langweiliger vor. Und weil Nishal den Flötenknilch verjagt hatte, würden sie den Filmstar wahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen.
Vielleicht erzählte seine Schwester ihm, was die anderen Kinder gemacht hatten.
*
»Was ist so besonders an einem Geburtstag?«, fragte Kalu den Guruji. Es war immer besser, den Guruji zu fragen, denn seine Antworten waren genauer als Ashwins, der jedes Mal vom Hundertsten ins Tausendste kam.
»Du möchtest also etwas über Geburtstage erfahren, mein Junge«, sagte der Guru. »Nun, abgesehen davon, dass man graue Haare bekommt und ein Jahr älter wird, kann ich dir nicht allzu viel darüber erzählen.« Der Guruji sah zu Kalu hinunter. Der Junge war gewachsen und inzwischen nur noch wenig kleiner als er selbst.
»Ich glaube, man feiert sie, um gewisse Lebensabschnitte zu markieren. Wieder ein beschäftigtes oder vielleicht auch unbeschäftigtes Jahr, je nachdem. Manche Menschen glauben, der Tag selbst kann für den Einzelnen von Bedeutung sein. Angeblich ist man an seinem Geburtstag aufgeschlossener gegenüber
neuen Ideen. Und Einflüssen von innen.« Der Guru nickte, als käme er zu einem eigenen Schluss. »Es ist ein guter Tag, um darüber nachzudenken, wo man herkommt und wohin man gehen wird.«
Der Guruji zauste Kalus Haar, bevor er sich abwandte. »Glaube ich zumindest. Natürlich haben andere, wie Ashwin zum Beispiel, eine ganz andere Meinung.«
»Geburtstag?« Ashwin, der ganz von einer seiner Fernsehsendungen in Anspruch genommen war, schaute auf. »Wer hat Geburtstag? Ich jedenfalls nicht. Kalu? Jetzt ist Ihre komische Probezeit für Kalu schon über ein Jahr zu Ende. Das heißt, er ist schon zwei Jahre bei uns. Wie die Zeit vergeht. Und wir haben in den ganzen zwei Jahren nicht einmal seinen Geburtstag gefeiert. Guruji, das ist Ihre Schuld.«
»Wann habe ich denn Geburtstag?« Kaum hatte Kalu die Worte ausgesprochen, hätte er sie am liebsten wieder zurückgenommen. »He, Ram, ich habe gar nicht nachgedacht …« Natürlich konnte niemand wissen, wann er geboren war.
Der Guruji ignorierte Ashwin und zog Kalu zu sich. »Du bist nicht der Einzige, der nicht weiß, wann er geboren wurde. Viele Menschen kennen ihr Geburtsdatum nicht. Anders als heute hat in früheren Zeiten niemand so recht darauf geachtet. Selbst meine Eltern mussten ihr Geburtsdatum noch schätzen. Und als Indien geteilt wurde, war es auch so. Viele Menschen verließen ihre Heimat, viele gingen verloren. Geburtstage waren das Letzte, woran man dachte. Nur Europäer und sehr reiche Leute feierten Geburtstag.«
Kalu ließ den Kopf hängen. Er hätte gern erfahren, wann er geboren war, aber es gab niemanden, der es ihm hätte sagen können.
»Du musst es so machen wie alle anderen in dieser Situation und dir selbst ein Datum aussuchen. Ich finde nur, es sollte ein glückverheißender Tag sein. Jetzt ab ins Bett mit dir, damit Ashwin mich in Ruhe ausschimpfen kann. Sobald
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