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Der Klang der Sehnsucht - Roman

Der Klang der Sehnsucht - Roman

Titel: Der Klang der Sehnsucht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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gebildet wurde und etwa zwanzig Fußminuten vom Dorf entfernt lag. Lautsprecher waren hier überflüssig.
    Bal saß oben auf dem Hang unter den Bäumen oder in ihren Ästen, wo niemand ihn sah, und schaute zu, wie die anderen sangen und tanzten. Er kam auch nicht in allen neun Nächten. Oft war er zu müde, nachdem er den ganzen Tag gearbeitet hatte. Einmal war er auf dem Hang eingeschlafen und hatte Prügel bezogen, weil er erst nach Sonnenaufgang nach Hause gekommen war. Sein Herr hatte sogar gedroht, die Polizei zu rufen oder ihn von nun an nachts in den Speicher einzuschließen, damit er morgens rechtzeitig zur Stelle wäre. Bal hasste es, eingeschlossen zu sein. Wenn er den Himmel nicht sehen konnte, be
gann sein Herz zu rasen und der Schweiß brach ihm aus. Also beschränkte er sich auf die erste und die letzte Nacht. Manchmal wartete er auch bis Sharad Purnima ab, wenn die Tänze bei Vollmond stattfanden. In diesen Nächten konnte er selbst aus der Entfernung das Bildnis der Muttergöttin Amba sehen, um das die Tänzerinnen sich scharten, während Mädchen und Jungen die Gesänge mit dem Ruf Jaya Ambe, Jaya Bhavani, Jaya Ambe begleiteten.
    Zu Sharad Purnima waren die Tänzerinnen weiß gekleidet und glichen den Strahlen des Mondes. Zu Bals frühsten Erinnerungen gehörte es, wie seine Mutter an Sharad Purnima Reisbrei mit Milch und Zucker ausbreitete, damit der »Mond ihn kochte«. Wenn der Mond dann hoch am Himmel stand, bekamen Bal und seine Brüder jeweils einen Löffel von dem süßen, weichen Milchreis. In diesen Nächten blieben Bal und seine Brüder stets wach und freuten sich auf den ersehnten Leckerbissen. Dennoch hatte er sich immer schlafend gestellt, damit seine Mutter ihn am Ohr kitzelte oder ihm das Haar aus dem Gesicht strich, um ihn sanft aus dem Schlaf zu holen. Mittlerweile wusste er nicht einmal mehr, wie seine Brüder aussahen, aber an den Geschmack der süßen Milch und die Berührung seiner Mutter konnte er sich noch gut erinnern.
    *
    In Hastinapore hatte Kalu den frühen Morgen wegen der Kühle und Frische geliebt, die um diese Zeit als schwacher Dunst vom Fluss heraufzogen. Jetzt liebte er den Morgen wegen der friedlichen Stimmung in den Bergen. Die kühle Luft vor Sonnenaufgang wirkte belebend. Wenn die Grillen verstummten und die Vögel noch schliefen, wusch er sich mit kaltem Wasser und schüttelte sich wie ein nasser Welpe, dass die Wassertropfen flogen.
    Anschließend entzündete er eine Flamme in dem kleinen Tempel im Garten, der einen Shiv-ling beherbergte. Er erinnerte
ihn an den Höhlentempel, in dem er damals auf der Plastikflöte geübt hatte. Obwohl es im Haus einen richtigen Tempel gab, zog Kalu das kleine, zwischen Blumen verborgene Heiligtum im Garten vor, in dem es keine hellen Lampen, keine seidenen Stoffe und keine Räucherstäbchen gab. Der kleine Steintempel war ein sehr persönlicher Ort, der nur ihm gehörte. Seine Zierde waren der Duft von Jasmin und die Wärme der feuchten Erde. Die kleine Lampe, die er entzündet hatte, war durch die niedrige Einfriedung zu sehen. Anfangs flackerte sie noch, dann wurde ihr Licht ruhig und stark, bis es golden und mit einem blauen Zentrum leuchtete. Der Geruch des Ghi, das die Flamme speiste, erinnerte Kalu an die kommende Mahlzeit. Er betete für Ganga Ba, Malti und Bal, dann dankte er Gott für Vaid Dada, den Guruji und Ashwin. Vor allem aber betete er um die Kraft zu spielen und die Fähigkeit zu lernen. Dieser Wunsch blieb stets der gleiche.
    »O Herr, lass mich dein Gefäß sein, dein Instrument.«
    Der Guruji hatte ihm beigebracht, richtig zu atmen. Die Augen zu schließen und im Bauch zu beginnen, seinen ganzen Körper mit Luft zu füllen und sie wieder entweichen zu lassen. Zu spüren, wie der Atem zirkulierte und langsam durch den Mund ins Freie strömte. Sein Atem, bald leicht, bald stark, war der Schlüssel, mit dem er seine Flöte zum Klingen brachte.
    Kalu hieß seinen Verstand schweigen und begann in dieser Leere zu spielen, just als der Himmel über den Bergen sich rosa färbte. Er übte, stärkte seine Atmung und wärmte seine Finger, indem er regelmäßig bestimmte Tonfolgen spielte.
    Ashwin brachte ihm eine Tasse Tee. Häufig blieb er, um zuzuhören, bis die durch Lautsprecher verstärkten Gesänge aus dem Dorftempel sich über die Berge erhoben und bis sich Haut auf dem Tee gebildet hatte.
    Der Gesang und der Ruf des Muezzin aus der Moschee auf dem Hügel waren für Kalu das Signal, sein Spiel zu beenden.

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