Der Klang der Sehnsucht - Roman
Ashwin stand auf, um seine Glieder zu strecken. Schweigend
tranken die beiden ihren lauwarmen Tee und genossen die Verheißungen des neuen Tages, ehe sie durch den Garten ins Haus zurückkehrten.
Später hörten der Guruji, Ashwin und Kalu sich die Nachrichten von BBC World im Radio an, tranken eine zweite Tasse Tee und aßen Kekse oder Thepla – mit Senfblättern gemachte Chapati – dazu. Erst als die zweite Tasse fast geleert war, sprachen sie etwas Nennenswertes miteinander.
»Hör mal, Kalu, ich fahre bald nach Hastinapore«, sagte der Vaid. »Komm doch mit. Ich werde immer nach dir gefragt. Sie würden dich dort so gern einmal wiedersehen.«
Jäh fiel Kalu ein, dass seine Ankunft hier drei Jahre zurücklag. Das erste Jahr mit dem Guruji war langsam vergangen, und er hatte damals jeden Tag vom Kalender abgestrichen. Inzwischen vergingen die Monate, ohne dass er es merkte. Die Tage flossen ineinander, und er maß die Zeit nur an den Raga, die er lernte.
»Er ist hier, um zu arbeiten, und nicht, um sich herumzutreiben«, sagte der Guruji, bevor Kalu antworten konnte.
»Nur weil du dich nie vom Fleck rührst, Bhai, muss Kalu das nicht auch tun. Jeder braucht einmal eine Pause, und drei Jahre sind lang genug.«
»Darf ich?«, Kalu sah den Guruji fragend an.
»Ich denke schon. Aber vergiss nicht, weiter zu üben, wenn du in Hastinapore bist. Und nicht zu lange, Bruder. Ich brauche ihn hier.«
Kalu lächelte. Bald würde er seine Freunde wiedersehen.
Kapitel 8
Malti beobachtete, wie der Junge mit dem Flötenkasten über der Schulter auf Ganga Bas Haus zuschritt. Wären nicht seine dunkle Haut und das leichte Hinken gewesen, hätte sie ihn nicht erkannt.
Sie hätte nie gedacht, dass die Zeit ihn so sehr hätte verändern können. Ihr Leben war einfach weitergegangen, und sie war durch ihre Briefe mit ihm in Verbindung geblieben. Aber er hatte sich verändert. Nicht nur, dass er jetzt älter aussah, damit hatte sie gerechnet, auch wie er seinen Kopf hielt und mit seinen langen Beinen ausschritt. Er zögerte nicht, als er am Tor ankam. Schaute sich nicht um, ob jemand ihn aufhalten würde.
Sie fragte sich, ob Kalu den Umweg über die Küche nehmen oder direkt zur Vordertür gehen würde. Sie dachte an den ersten Tag, als er mit Ganga Bas Post an dieses Tor gekommen war. Ein kleiner Junge, halb wahnsinnig vor Hunger. Ungeschickt hatte er den Haken geöffnet und dann an die Wand gelehnt gewartet, dass jemand sich um ihn kümmerte oder ihn wegjagte.
Jetzt trug er Schuhe, die auch Raja gern besessen hätte, sich aber nie hätte leisten können. Seine Kleidung war neu und gebügelt. Sein Haar war geschnitten und glänzte. Überhaupt strahlte er vor Gesundheit.
Kalu war zu einem jungen Mann herangewachsen. Und er war kein Bettler mehr, der sich mit Almosen zufriedengab. Er war jetzt ein völlig anderer Mensch.
Eins wusste Malti gleich: Die Schlafmatte, die Ganga Ba für ihn im Hof hatte auslegen lassen, würde unbenutzt bleiben. Dieser Junge würde ein Bett im Haus bekommen. Auch den Beutel mit den abgelegten Kleidern, die Malti für ihn hatte waschen und bügeln müssen, würde ihm Ganga Ba nicht geben.
Malti eilte ins Haus und hörte gerade noch, wie Ganga Ba Brahmanji anwies, Tee für ihre »beiden« Gäste zu bringen.
Malti kicherte, als Ganga Ba fortfuhr. »Kalu, würde es dir etwas ausmachen, in einem Zimmer mit dem Vaidji zu schlafen. Ihr werdet natürlich beide hier übernachten. He, Bhagwan, bist du aber gewachsen, Junge!«
*
»Malti! Malti! Wo bist du denn? Was kann denn so viel wichtiger sein als ich, Yar? Ich bin erst gestern angekommen, also kannst du ja noch nicht die Nase voll von mir haben!« sagte Kalu.
Malti schaute auf und lächelte. »Hallo, Großauge.«
Bis zu diesem Moment war Kalu sich nicht bewusst gewesen, wie sehr Malti ihm gefehlt hatte. Er nahm ihr den Topf aus den Händen und stellte ihn auf den Boden. Als er dabei ihre Arme berührte, spürte er ihre Wärme. Sie erschien ihm anders und unverändert zugleich. Erwachsener, eine Frau, dennoch war sie Malti. Die Konturen ihres Gesichts waren ihm bisher nie so aufgefallen. Die klaren, schlichten Züge verliehen ihr eine Anmut und Würde, die über ihre Jahre hinausreichten. Sie gingen hinter das Haus und setzten sich unter den Frangipani.
»Und? Hat es sich gelohnt?«
Kalu musste nicht fragen, was sie meinte. Er war froh, dass sie gleich die wichtigste Frage stellte. »Ja, das hat es. Es kommt mir gar nicht wie drei Jahre vor.
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