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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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dahinfließen, wie aufgeregte Chorsänger, die sich nicht auf ein Tempo einigen können. Wenn das Jetzt wirklich so fließend und unberechenbar ist, wie können wir uns dann überhaupt lang genug hier treffen, Pa und ich, um miteinander zu reden?
    Jonah ist weg, verschwunden hinter einer Ladentür, die wohl zu Frischs Bäckerei gehört. Ich habe einen Albtraum am helllichten Tag: Ich sehe mich um die Ecke biegen und den Laden betreten, fünfzig, hundert Jahre alt, älter als Pa, aber erst als Jonah mich entsetzt anstarrt, weiß ich, wie alt ich geworden bin.
    »Je schneller man sich bewegt, desto schwieriger wird es mit dem Messen.« Pa singt diese Worte. Er bewegt den Kopf beim Gehen hin und her wie ein Dirigent. »Bei nahezu Lichtgeschwindigkeit ist es sogar ganz extrem. Weil das Licht noch immer mit Lichtgeschwindigkeit an einem vorbeirast!« Er macht eine rasche Handbewegung durch den neuerdings gekrümmten Raum.
    »Und wenn man noch mehr beschleunigt, sodass man schneller ist als das Licht ...«, hebe ich an, fasziniert von dem Gedanken, man könne auch rückwärts reisen.
    »Man kann sich nicht schneller bewegen als mit Lichtgeschwindigkeit.« Sein Unmut ist nicht zu überhören. Ich habe einen Fehler gemacht, ihn verärgert. Ich verziehe das Gesicht. Aber Pa bemerkt es nicht. Er ist irgendwo anders, misst mit einem schrumpfenden Zollstock, der gegen null tendiert.
    Jonah erwartet uns in der Bäckerei. Er hat für ziemliche Aufregung gesorgt, doch als wir eintreten, verstummen alle. In dem Laden verwandelt Pa sich in einen Ausländer. Er redet mit Mr. Frisch in einer Sprache, die nur entfernt an Deutsch erinnert, und ich kann nur erahnen, worüber sie sich unterhalten.
    »Warum sind sie nummeriert?«, flüstere ich.
    »Nummeriert?«, fragt Pa, dieser Mann der Nummern und Zahlen. Ich berühre seinen Arm, um zu zeigen, was ich meine. Pa sagt, ich soll still sein, was er sonst nie tut. »Scha! Frag mich das ein andermal, nächstes Jahr um diese Zeit.«
    Dabei hat er gerade erklärt, dass es das nicht gibt: nächstes Jahr um diese Zeit.
    Mr. Frisch stellt mir eine Frage, die ich nicht verstehe.
    »Der Junge spricht unsere Sprache nicht«, sagt Pa. Dabei kann ich sehr gut sprechen.
    »Er spricht nicht! Wie können Sie das zulassen? Mir soll es gleich sein, was sie sind. Wie sie aussehen. Aber wie erziehen Sie diese Kinder?«
    »Wir erziehen sie nach bestem Wissen und Gewissen.«
    »Professor. Wir werden immer weniger«, sagt der Bäcker. »Überall wollen sie uns ausrotten. Und in diesem Punkt ist es ihnen fast schon ge-lungen. Unser Volk braucht jeden Einzelnen. Spricht die Sprache nicht!«
    Wir nicken und winken zum Abschied, Mr. Frisch ist wieder ausgesöhnt. Unter dem Arm trägt Pa einen unbekannten magischen Stoff, Mandelbrot. Das ist etwas, was Mama nicht machen kann. Nur bei Frisch gibt es das originale Mandelbrot, das Pa immer gegessen hat, bevor er in die Vereinigten Staaten kam.
    Für Jonah und mich sieht es aus wie ein gutes gesüßtes Brot, kaum den langen Weg nach Norden wert. Für Pa kommt es aus einer anderen Dimension. Eine Zeitmaschine.
    Wir bergen unseren Schatz in einer fettigen Tüte, tragen ihn hinauf zum Fort Tryon. Mein Vater kann sich kaum beherrschen. Noch ehe wir uns auf einer der Bänke niederlassen, die den gewundenen Pfad durch den Park säumen, hat er bereits zwei Stückchen genascht. Wir haben die Bank ganz für uns. Andere Leute sitzen auch auf Bänken, aber nie neben uns. Pa fällt das nicht auf. Er ist beschäftigt. Wenn er die magische Substanz in den Mund steckt, sieht sein Gesicht aus, als rase es dem Stillstand entgegen.
    »Das ist es«, ruft er aus, und die Krümel fliegen durch die Gegend wie gerade erst entstehende Galaxien. »Dasselbe Mandelbrot, das ich immer esse, wenn ich in eurem Alter bin.«
    Bei der Vorstellung wird mir ganz schwummrig: mein Vater in meinem Alter.
    »Genau dasselbe!« Die Begeisterung verschlägt meinem Vater die Sprache. Mandelbrot, dieser wertvolle Stoff, den man nur in Deutschland, Österreich und bei Frisch an der Overlook Terrace bekommt, wandert in seinen Mund und verwandelt ihn. »Oh. Oh! Als ich so wie ihr ...«, hebt Pa an, doch die Erinnerung lässt ihn verstummen. Er legt die Hand auf den Magen, schließt die Augen und schüttelt in ungläubiger Dankbarkeit den Kopf. Ich sehe, wie ein kleines Kind – ich selbst – das Brot vertilgt, das in diesem Augenblick in seinen Mund wandert. Genau dasselbe.
    Pa ist noch das Kind, das ich schon fast

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