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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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auf; ich kann es nicht erken-nen. Das Horn ist offenbar so lang wie der gesamte Körper. Hinter ihm steht ein Baum, um den Buchstaben schweben – ein A und ein D, oder ein A und ein umgedrehtes E. Möglicherweise die Initialen des Einhorns.
    Dann sehe ich sie: die Kette. Das eine Ende der Kette ist an dem Baum befestigt, das andere am Halsband des Einhorns. Das Halsband ist kein Schmuck, sondern eine Fessel, und das Einhorn ist gefangen, für immer gefangen. Der Körper ist voller Wunden, Messerstiche, die ich anfangs übersehen habe. Gewirktes Blut tropft über seine Flanken.
    »Es ist gefangen. Die Menschen haben es erwischt. Es ist ein Sklave.« Ich sage Pa, was auf dem Bild ist, aber er ist nicht zufrieden.
    »Ja, ja. Es sitzt in der Falle. Sie haben es überlistet. Aber woraus ist das Bild?«
    Ich spüre, wie mir die Tränen kommen. Ich stampfe mit dem Fuß, doch ein Blick von Jonah lässt mich innehalten. »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, was du meinst. Was willst du denn wissen?«
    »Sieh ganz genau hin.« Er gibt mir einen kleinen Schubs. Ich mache einen Schritt nach vorne. »Noch näher.«
    »Pa!« Ich bin schon wieder den Tränen nah. »Wenn mich der Aufseher erwischt.«
    »Was soll der dir schon tun? Du bist nicht sein Sklave! Und wenn er dir etwas will, dann kriegt er es mit mir zu tun!«
    Ich gehe so nah heran, wie ich mich traue, rechne jeden Augenblick damit, dass ich erwischt und bestraft werde. Man wird uns alle drei für immer in Ketten legen, uns einsperren in einem alten grauen Steinverlies.
    »Gut so, mein Joseph. Nun, woraus ist das Bild?« Ich weiß immer noch nicht, was er von mir hören will, verstehe die Frage nicht. Also gibt Pa die Antwort selbst: »Knoten, Jüngele. Das Bild besteht aus Knoten, genau wie die Bilder, in denen wir leben. Winzige Knoten im Teppich der Zeit.«
    Ich bin mir ziemlich sicher, dass Teppich nicht das Wort ist, das er meint. Einen Augenblick lang sehe ich, was er sieht. Jedes Jetzt, jede einzelne Bewegung auf dieser Erde, ist ein kleiner bunter Faden. Doch wenn man einen Punkt findet, von wo aus man das Ganze überblicken kann, verbinden sich all diese Fäden im Gewebe der Zeit zu einem Bild, gefesselt und blutend in einem Garten.
    Jonah verliert das Interesse an Pas Vorträgen. Uhren, Knoten, Zeit, Einhörner – über all das ist mein Bruder längst hinweg, schon auf dem Sprung in seine eigene Zukunft. Er zieht weiter in einen anderen Raum, und Pa und ich müssen ihn suchen. Er vollführt einen kleinen Tanz vor einem goldenen Notenständer in Gestalt eines Adlers. Auf dem Ständer liegt aufgeschlagen ein Buch mit uralter Notenschrift. Sie haben kaum etwas mit den Noten gemein, die ich zur gleichen Zeit wie die Buchstaben lesen gelernt habe. Es sieht vollkommen anders aus als alles, was wir je gesehen haben. Es gibt keine Taktstriche, und es sind weniger Notenlinien. Jonah starrt die Noten an, summt wild entschlossen vor sich hin. Aber er bringt keine Melodie zustande. »Ich verstehe das nicht. Das ist Blödsinn.«
    Pa lässt uns beide noch eine Weile rätseln, bevor er uns den Schlüssel reicht. Oder eben nicht, weil diese Musik aus einer Zeit ohne Notenschlüssel, ohne Tonarten stammt. Er erklärt uns das Geheimnis der Töne in der Zeit. Die Takte, die man in jenen fernen Zeiten zählte, als der Puls der Welt noch in einem anderen Rhythmus schlug. Die Tondauer, bevor Takte existierten.
    Wir drei stehen in dem kalten steinernen Raum und psalmodieren. Das Wort kenne ich noch nicht, aber das Singen fällt mir so leicht wie Atmen. Wir stehen eng gedrängt in diesem Pastiche aus zusammengestohlenen Klosterstücken, amerikanische Beutekunst, gefangen in einem Teppich der Zeit, so unentwirrbar wie ein verfilzter Pullover. Ein Jude und seine zwei hellbraunen Söhne singen »Veni, veni«, Europas Weckruf, mit dem es sich anspornte zur Eroberung des Planeten. Wir singen leise, aber doch deutlich zu hören, lassen uns auch nicht abhalten von den Leuten, die nach und nach in den Raum kommen. Ich spüre ihre Missbilligung. Wir sind zu ungehemmt in diesem Museum der guten Sitten. Aber mir ist es gleich, was sie denken, solange nur der musikalische Faden sich spannt und wir drei ihn weiter aufrollen können, uns einspinnen darin. Als wir das Ende des Pergaments erreicht haben, halten wir inne und sehen uns um. Leute sitzen auf Holzstühlen, Stuhlreihen für ein Konzert. Manche blicken uns vorwurfsvoll an. Aber Pa strahlt, wuschelt unser üppiges Haar. »Jungs! Jetzt wisst

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