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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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nicht mehr bin. Sein Verstand arbeitet mit einer solchen Geschwindigkeit, dass seine Uhr beinahe stehen bleibt. Kein Tag, an dem er uns nicht doppelt so viele Fragen stellt wie wir beantworten können. Es ist anstrengend. Ist es möglich, dass die Zeit auch eine Masse hat? Hat sie Nahtstellen, wie die Fugen in einer Ziegelmauer? Kommt womöglich irgendwann eine Zeit, zu der das Wasser bergauf fließt? Über solchen Gedanken löste er sich auf wie ein Stück Zucker im heißen Tee der eigenen Ideen.
    »Jeder Mensch, der in Bewegung ist, hat seine eigene Uhr?«, frage ich, obwohl ich die Antwort kenne. Aber die Frage bewirkt, dass er sich nicht von der Stelle bewegt. Sorgt dafür, dass er sein Mandelbrot isst und für den Augenblick außer Gefahr ist.
    Pa nickt, und prompt verfehlt der nächste Bissen den Mund.
    »Und keiner merkt, dass seine Uhr falsch geht?«
    Er schüttelt den Kopf. »Es gibt keine falsch gehenden Uhren. Wenn ihr aneinander vorbeikommt, denkt jeder, die Uhr des anderen gehe falsch.« Sein Finger beschreibt eine Korkenzieherspirale in der Luft, sein Kürzel für verrückt. Die Geste, mit der die meisten Menschen ihn beschreiben würden.
    »Jeder denkt, der andere bewegt sich zu langsam?« Der Gedanke ist so abenteuerlich, da kann man nur lachen.
    Jonah liebt die Idee. Er kichert und jongliert mit drei Bällchen aus zusammengepapptem Mandelbrotteig, ein kleines Sonnensystem. Pa klatscht in die Hände und verteilt dabei Krümel in alle Richtungen. Sämtliche Tauben der fünf Stadtteile fallen in einem großen Schwarm über uns her. Jonah schmettert ein hohes H, der Freudenschrei der Kindheit. Die Tauben ergreifen die Flucht.
    Wenn Pa es ernst meint, ist das Universum unmöglich. Alles wirbelt durcheinander, jedes Stückchen nach seinem eigenen Zeitmaß. Ich greife nach dem Arm meines Vaters. Der Boden unter meinen Füßen wird weich wie Pudding. Wochenlang plagen mich Albträume – ich sehe schlaffe Gestalten vor meinen Augen in die Höhe schießen und zusammenschrumpfen, höre ihr vielstimmiges Wehklagen, so klebrig zäh wie die Stimmen aus dem Plattenspieler, wenn Jonah und ich Münzen auf den Plattenteller fallen lassen. Ich spüre, dass ich verrückt werde, und alles wegen dieses Lieblingsexperiments meines Vaters: Kann man den Verstand eines Menschen, der noch nicht der Idee der absoluten Zeit verhaftet ist, so weit befreien, dass er die Relativität akzeptiert?
    »Aber wenn nun jeder nach seiner eigenen Uhr lebt ...?« Meine Stimme versagt. Mein Mut ergreift die Flucht, aufgescheucht wie die Tauben. »Wie spät ist es dann, in Wirklichkeit?« Ich klinge wie mein eigenes verängstigtes Kind, ein kleiner, schiffbrüchiger Junge, der nicht über die erste zeitlose Frage hinauskommt: Ist jetzt schon morgen?
    Pa strahlt. »Du hast es erfasst, Jüngele. Ich hab's gewusst. Es gibt jetzt kein allgemein gültiges Jetzt mehr. Und es hat auch nie eins gegeben!«
    Wie zum Beweis dieser wahnwitzigen Behauptung, führt er uns an den äußersten Rand der Insel Manhattan zu einem versteckten Tal in den Heights. Dort liegt hinter einem Kranz von Bäumen verborgen ein altes Kloster. »The Cloisters«, sagt Pa. Dahinter der noch ältere Fluss, auch wenn er ihn nicht erwähnt. Wir quetschen uns seitwärts durch ein Loch in der Zeit und reisen sechshundert Jahre in die Vergangenheit.
    »Hier ist das fünfzehnte Jahrhundert. Und wenn wir dort langgehen, kommen wir ins vierzehnte.« Pa zeigt auf die Jahrhunderte wie auf Orte. Ich verliere die Orientierung, so wie Mama manchmal, wenn wir in die U-Bahn gehen und auf dem falschen Bahnsteig landen. Wenn die Vergangenheit älter ist als die Gegenwart, dann muss die Zukunft jünger sein. Und wir müssen alle rückwärts gehen, mit jedem Jahr, das vergeht.
    »Das hier ist kein echtes Gebäude. Es ist ein schönes großes ... ähm?«
    Pa verschränkt die Hände und ringt nach dem Wort. »Ein zusammengewürfeltes Puzzle. Stückwerk von verschieden alten Orten. Zerlegt in der Alten Welt, nach New York gebracht und hier wieder aufgebaut. Vereint zu einem Museum, eine Art Inventar. Ein Wörterbuch unserer Vergangenheit!«
    Er sagt »unsere«, aber das liegt daran, dass er in der englischen Sprache nicht zu Hause ist. Wir müssen immer raten, was er wirklich meint. Das ist nicht unsere Vergangenheit. Kein Amerikaner, den ich kenne, hat jemals einen Fuß hierher gesetzt, es sei denn aus Versehen. Es kommt mir vor, als müsse jeder Punkt auf der Erde ein Diorama sein, ein lebendes

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