Der Klang der Zeit
Vater von früher kennen, aus der Zeit, als er noch hier gewohnt hat. »Bevor ich eure Mutter getroffen habe.« Der Klang dieser Worte ängstigt mich. Mein Vater grüßt einige der Passanten mit Namen. Er begrüßt diese Fremden, als habe er sie gestern noch gesehen. Die Leute – älter als der Mond und die Sterne –behandeln ihn kühl, irgendwie distanziert, aber Pa merkt es nicht. Ein abschätziger Blick auf uns, mehr brauchen sie nicht zur Erklärung. Schon damals sehe ich all die Dinge, die Pa nicht wahrhaben will.
Unser Pa sieht seine alten Nachbarn mit bestürzter Zielstrebigkeit die Bennett Avenue entlang davoneilen. Der Krieg ist seit vier Jahren zu Ende. Aber selbst jetzt scheint er nicht zu begreifen, wie wir alle davongekommen sind. Frühjahr 1949, er und seine Jungen haben auf der Treppe zur Overlook Terrace auf halbem Weg eine Pause eingelegt. Er schüttelt den Kopf, denn er weiß etwas, was keiner seiner früheren Nachbarn aus Washington Heights glauben würde, jetzt nicht und auch nicht, wenn ein Leben lang Sonntag wäre. Alle sind tot. All die Namen, die für mich nicht mehr sind als Legenden – Bubbie und Zadie und Tante – all die, die wir nie gekannt haben. Alle weg. Und alle immer noch lebendig, in Pas Kopfschütteln.
»Meine Jungs.« In seinem deutschen Akzent reimt sich boys auf voice. Er lächelt, betrübt über das, was er uns zu sagen hat. »Das Jetzt ist nur eine raffinierte Lüge.« Wir hätten nie daran glauben dürfen, sagt er. Ein Zwillingspaar hat diese alte Illusion zerstört. Seltsamerweise tragen die Zwillinge unsere Namen, obwohl mein Bruder und ich ganz und gar keine Zwillinge sind. »Ein Zwilling, nennen wir ihn Jonah, verlässt die Erde vierzig Jahre zuvor, mit einer Rakete, die sich fast mit Lichtgeschwindigkeit bewegt. Joey, der andere Zwilling, bleibt daheim auf der Erde. Jonah kommt zurück, und – darauf kommt ihr nie: Die Zwillingsbrüder sind nicht mehr gleich alt! Die Zeit ist für sie unterschiedlich schnell vergangen. Joey, der Bruder, der zu Hause bleibt, ist jetzt so alt, dass er der Großvater seines Bruders sein könnte. Aber unser Jonah, der Junge in der Rakete, der ist in die Zukunft seines Bruders gereist, ohne je seine eigene Gegenwart zu verlassen. Wenn ich's euch sage: Jedes Wort ist wahr.«
Pa nickt, und ich sehe, er meint es ernst. Das ist das Geheimnis der Zeit, das keiner erraten, keiner glauben will, nur dass einem nichts anderes übrig bleibt als es zu glauben. »Jeder Zwilling hat sein eigenes Tempo. Jedes bewegliche Objekt im Universum ist sein eigenes Metronom.«
Es muss ein schöner Tag gewesen sein, denn an die Witterung erinnere ich mich nicht. Schönes Wetter verschwindet im Laufe der Zeit. Schon damals erscheint uns die Welt unzeitgemäß. Der Krieg ist vorbei; allen, die nicht tot sind, steht die Welt offen. Mit acht und sieben Jahren warten mein Bruder und ich auf all die Umwälzungen, die dem Planeten neues Leben einhauchen sollen und uns endlich eine Heimat geben. Roll-treppen, mit denen man zur Overlook Terrace gelangt, ohne einen Fuß zu rühren. Bildtelefone, die man am Handgelenk trägt. Schwebende Häuser. Pillen, die sich in jedes gewünschte Nahrungsmittel verwandeln, allein durch die Zugabe von Wasser. Musik auf Knopfdruck, wo immer man will. Diese Stadt aus Backstein und Eisen ist etwas, woran ich mich im hohen Alter erinnern werde, mit dem gleichen kopfschüttelnden Lächeln der Befremdung, in das mein Vater sich flüchtet, hier in diesem fremden Land, in diesem falschen Jetzt.
In Jonahs Augen sehe ich ein Abbild meiner eigenen Ungeduld. Dieser ganze Ort ist rückständig, unmodern. Raumschiffe gibt es noch gar nicht, außer dem einen, das diese Zwillinge benutzt haben, um die Zeit zu spalten. Wir wissen längst, wie diese Raumschiffe aussehen werden und zu welchen Planeten wir mit ihnen reisen werden. Wir wissen bloß nicht, wie lang die Reise dauern wird.
Ich sehe Pa an und frage mich, ob er das, wovon er erzählt, noch erleben wird: Raumschiffe, die mit Lichtgeschwindigkeit durch das Weltall fliegen. Unser Vater ist unvorstellbar alt. Er ist gerade achtunddreißig geworden. Er hat unheimliches Glück, dass er so lange lebt. Gott muss von seiner Arbeit gehört haben, von den Uhren, die unterschiedlich ticken, und muss unserem Pa eine Uhr mit einer ganz besonderen Antriebsfeder gegeben haben.
Wir erreichen das obere Ende der Treppe, den Bürgersteig der Overlook Terrace. Wir gehen nach links, zur Bäckerei Frisch,
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