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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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vorbei an einem Abfallkorb, an den ich mich besser erinnern kann als an den gestrigen Tag. Vor dem Papierkorb liegt ein toter Vogel. Wir können nicht mit Sicherheit sagen, was für ein Vogel es ist, denn er hat einen schokola-denbraunen Überzug aus Ameisen. Wir gehen weiter, vorbei
    an der Bank mit der abblätternden Farbe, auf der ich eines Nachts ein Vierteljahrhundert später in einem Washington Heights, das ich nicht mehr wiedererkenne, dem liebsten Menschen, der mir je begegnet ist, sagen werde, dass ich ihn nicht heiraten kann. Heute hat ein älterer Mann – so um die zwanzig – die Bank ganz für sich. Er hat einen Arm über die Rückenlehne gelegt, und seine Schultern weisen in die Ewigkeit. Er trägt eine gestreifte Mütze und einen dicken, butzligen Anzug. Ich sehe den Mann an und erinnere mich. Er mustert uns ebenfalls; sein Blick wandert verwirrt von den Söhnen zum Vater und wieder zurück, die gleiche Verwunderung, die wir überall hervorrufen – außer zu Hause. Doch bevor er sich umdreht, um eine abfällige Bemerkung zu machen, zerrt Jonah Pa wie ein Blindenhund über die Straße, hin zur Bäckerei Frisch und zu weiteren Erklärungen.
    Mit jedem Schritt, den er sich von mir entfernt, verlangsamt sich Jonahs Uhr. Aber gerade das macht ihn nur noch ungeduldiger. Jonah läuft und bremst, Pa trödelt und beschleunigt. Er redet immer noch so, als ob wir ihm folgen könnten. »Versteht ihr, das Licht rast immer mit der gleichen Geschwindigkeit an einem vorbei. Egal ob man auf es zuläuft oder in derselben Richtung unterwegs ist. Etwas muss also schrumpfen, damit die Geschwindigkeit gleich bleibt. Deshalb kann man nicht sagen, wann etwas geschieht, ohne dass man zugleich sagt wo, auf welchem Bild des Films.«
    So redet er. Er ist ein bisschen übergeschnappt. Daran merken wir, dass er unser Pa ist. Wenn er diese sonntägliche Straße entlangblickt, sieht er nichts, was nicht in Bewegung ist. Jeder bewegliche Punkt ist das Zentrum eines dahinrasenden Universums. Zollstöcke schrumpfen, Gewichte werden schwerer, die Zeit fliegt zum Fenster hinaus. Er stolpert in seinem eigenen Tempo dahin. Ich will, dass er keinen von uns loslässt. Aber der Unterschied ist zu groß. Jonah fliegt und Pa kommt nicht nach; schon bald wird Pas Zeit so schnell laufen, dass wir ihn an die Vergangenheit verlieren. Eigentlich braucht er uns nicht. Er braucht überhaupt kein Publikum. Er ist bei Bubbie und Zadie, seiner Schwester und ihrem Mann, und überlegt, wie er sie zurückholen kann.
    Ich versuche ihn zum Lachen zu bringen, auf ihn einzugehen. »Je schneller du gehst, desto langsamer vergeht für dich die Zeit?«
    Aber Pa hebt nur den Kopf und freut sich über meine dumme Bemerkung.
    Ein Auto rast vorbei, schneller als Jonah. »Bei diesem Auto geht die Uhr falsch. Zu langsam?«
    Unser Vater lacht leise, eine liebevolle, doch abschlägige Antwort. Er sagt nicht: Bei niedrigen Geschwindigkeiten ist der Unterschied minimal. Für ihn ist der Unterschied gewaltig. »Nicht zu langsam. Langsamer als deine. Aber schnell genug für sich selbst!«
    Ich besitze keine Uhr. Aber ich spare mir die Mühe, ihn daran zu erinnern. Er wird mir eine zu Weihnachten schenken, später im selben Jahr. Und er wird mir einschärfen – so eindringlich, dass ich nicht sagen kann, ob es ein Scherz ist –, dass ich sie niemals zurückdrehen darf.
    »Der Fahrer dieses Wagens«, sagt er, obwohl das Auto längst verschwunden ist, »altert langsamer als du.«
    »Und wenn wir alle schnell fahren würden ...«, fange ich an. Mein Vater beobachtet, wie ich mit dem Problem ringe, und nickt mir aufmunternd zu. »Dann würden wir länger leben?«
    »Länger als wer?«
    Er fragt mich. Eine echte Frage. Aber es kann nur eine Scherzfrage sein. Schon suche ich nach der scherzhaften Antwort.
    »Vergiss nicht, dass die Uhr für uns, in unserem persönlichen Zeitrahmen, kein bisschen langsamer geht.« Er sagt das, als wisse er, dass ich diese Botschaft erst Jahre später verstehen werde. Ich bin Empfänger und Bote zugleich; er erwartet, dass ich mir die Botschaft selbst überbringe, an einen Ort weit weg von diesem Jetzt. »Wir können nicht in unsere eigene Zukunft reisen«, sagt er meinem zukünftigen Ich. »Nur in die Zukunft der anderen.«
    Ich blicke die Straße entlang, auf diesen zähflüssigen Brei aus beweglichen Zeiten. Das ist wirklich zu verrückt. Uhren und Zollstöcke weicher als Karamell. Lauter klebrige Zeitfragmente, die verschieden schnell

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