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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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an. Wir beide waren einfach nur die nächsten, für die er ein Rätsel lösen sollte. »Michael?« Er wusste nicht, was für ein neues Elementarteilchen das war. Er sah uns an, erinnerte sich, wer wir waren. Etwas machte Klick. Er schien erschrocken und freudig erregt, beides zugleich. »Hier?« Jonah nickte. »Ein großer Mann? Ungefähr eins neunzig?« Wir sahen einander an, erschrocken. Jonah zuckte mit den Schultern. »Ein gut aussehender Mann? Feine Züge? Ein Ohr ungefähr so?«
    Pa zog an seinem rechten Ohrläppchen und ahmte den Knick nach, der uns beiden aufgefallen war. Kein Wort von der zimtfarbenen Haut. Das Erste, was ein anderer gefragt hätte. Unserem Vater kam das gar nicht in den Sinn.
    »Ja?«, fragte er. »Ist er das?« Immer noch glücklich, immer noch ängstlich. »Wo ist er?«
    Jonah zuckte noch einmal mit den Schultern. »Weg.«
    »Er ist gegangen?« Pas Gesicht war wieder so bleich wie an dem Tag, an dem er nach Boston gekommen war, um uns zu sagen, dass Mama tot war. »Er ist nicht mehr hier?«
    Es war eine blödsinnige Frage, aber ich nickte. Etwas war schief gegangen, und Jonah und ich waren schuld daran. Ich nickte, hoffte, dass das half. Aber Pa sah mich überhaupt nicht. Unser Vater war nie so recht zu Hause in seinem Körper. Er war zu behäbig für seine behände Seele. Wenn er ging, dann polterte er neben sich her wie ein zu schwer bepackter Koffer. Aber dies eine Mal lief er. Er rannte so schnell, dass alle Gespräche in seinem Kielwasser ins Schaukeln kamen. Jonah und J ch mussten uns anstrengen, dass wir mithielten.
    Pa kam nach draußen, auf die Straße, wäre auch durch die Fußgängerscharen weitergelaufen. Er kam bis zur ersten Querstraße. Ich war einen halben Häuserblock zurückgeblieben und betrachtete ihn aus der Ferne. Es war ein Viertel, in das er nicht gehörte. Selbst in einem so breiten Spektrum fiel er noch aus dem Rahmen.
    Pa gab sich geschlagen und machte kehrt, kam zu uns zurück. Aus dem kleinen gemieteten Saal schlug uns das Stimmengewirr entgegen. Zu dritt gingen wir wieder hinein, und alles verstummte. Pa blickte in die Runde und versuchte trotz allem zu lächeln.
    »War das jemand, den wir kennen, oder was?«, fragte Jonah.
    »Er hat gesagt, ich sehe aus wie Mama.« Ich klang wie ein Kind.
    »Ihr seht beide aus wie eure Mutter.« Er sagte es, ohne uns anzusehen. »Ihr alle drei.« Er nahm die Brille ab und wischte sich die Augen. Dann setzte er die Brille wieder auf. Das Lächeln, das ungläubige Grinsen, das sanfte Kopfschütteln vergingen. »Ach, meine Jungs«, sagte er. Er wollte mein Jojo sagen, aber er brachte es nicht über die Lippen. »Ach, Jungs. Das war euer Onkel.«

FRÜHJAHR   1949
     
    Ich bin sieben Jahre alt, als unser Vater mich in das Geheimnis der Zeit einweiht. Wir sind auf der Treppe von der 189. Straße zur Overlook Terrace, auf halbem Wege zu unserem nächsten Etappenziel, der Bäckerei Frisch. Ein Sonntag im Frühjahr 1949, irgendwann in der Osterzeit.
    Mein Bruder Jonah ist acht. Er nimmt die Treppe wie ein Panzer, immer zwei Stufen auf einmal, während ich mich mühsam emporquäle. Damals ist Jonah noch um ein Viertel größer als ich. Er stürmt davon, als wolle er mich in dieser fernen Vergangenheit zurücklassen. Wahrscheinlich würde er das auch tun, wenn Pa uns nicht zusammenhielte, an jeder seiner weißen Hände einen Jungen.
    Unser Vater hat sich zeit seines Lebens mit der Zeit beschäftigt. Er hat schon daran gearbeitet, als mein Bruder noch nicht auf der Welt war. Ich kann gar nicht genug bekommen von dieser Idee: Jonah ein Nichts, nicht einmal ein Staubkörnchen, und mein Vater schon an der Arbeit; er vermisst uns nicht einmal, weil er garnicht weiß, dass er bald Gesellschaft bekommt.
    Aber jetzt, in diesem Jahr, sind wir hier bei ihm. Zusammen unternehmen wir diese beschwerliche Pilgerreise zur Bäckerei Frisch, bleiben stehen, weil wir außer Atem sind. »Um uns selbst einzuholen«, sagt Pa.
    Jonah hat sich, wer immer das sein mag, längst eingeholt; er zerrt an Pas Arm wie ein Hund an der Leine, denn er wittert Abenteuer auf dem Gipfel dieses gepflasterten Hügels. Ich bin außer Atem und brauche eine Verschnaufpause. All das liegt ein halbes Jahrhundert zurück. In der Zwischenzeit ist der Tag brüchig geworden, wie eine Schachtel alter Ansichtskarten aus den Rocky Mountains, die beim Frühjahrsputz zutage kommt. Alles woran ich mich jetzt erinnere, muss zur Hälfte erfunden sein.
    Wir begegnen Leuten, die meinen

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