Der Klang der Zeit
Bild, so wie die, die Jonah und ich mit Mama nachstellen: Apollo reicht Orpheus seine erste Lyra, oder Händel an seinem Schreibtisch, wie er in einundzwanzig Tagen den Messias schreibt. Jeder Punkt sein eigenes Jetzt, sein eigenes Nie.
»Hier sind fünf verschiedene Klöster aus Frankreich versammelt«, sagt Pa. Er zählt sie auf, und die Namen entschwinden in die leere Zukunft.
»Wie haben sie die Sachen hierher gekriegt?«, will ich wissen.
Mein Bruder versetzt mir einen Stoß. »Stein für Stein, du Dämel.«
»Wie sie sie gekriegt haben?«, fragt Pa hämisch grinsend. »Reiche Amerikaner haben sie gestohlen.«
Ein Aufseher wirft uns einen bösen Blick zu, und Jonah und ich zerren Pa eilig den Gang hinunter in Sicherheit. Wir gelangen in einen Arkadenhof, in dessen Mitte ein Garten liegt. Er erinnert mich an einen Ort, an die Schule, in der ich Jahre später leben werde. Jeder Bogen ruht auf zwei Steinsäulen. Jede Säule ist gekrönt von steinernen Weinranken, seltsam schlangenartigen Schlaufen und Windungen, geheimnisvollen Kreaturen im dichten Laub. Einige dieser Figuren tun Dinge, die kleine Jungs eigentlich nicht sehen sollten und die Erwachsene nicht bemerken. Jonah und ich flitzen im Eiltempo rund um den Innenhof und kichern über die verbotenen Botschaften, die Steinmetze, die schon seit sieben Jahrhunderten tot sind, uns übermitteln. Rings um uns her gibt es Dutzende von brutalen Gemälden auf Holztafeln. Wir sind in einer in Stein gemeißelten Kindergeschichte gelandet, in der grausamen Jugend der Welt.
Pa zügelt unsere Erregung, legt jedem von uns eine Hand auf die Schulter und rettet so Europas kostbare Kinderbilder vor unserem Ungestüm. Auf dem Weg in unser künftiges Dasein werden wir noch durch viele Museen ziehen, durch manche schneller, durch andere langsamer – Museum of Modern Art, Indianermuseum, jüdisches Museum, Metropo-litan, Cooper-Hewitt, die Ruhmeshalle für Große Amerikaner – werden viele Ausstellungsstücke interessiert, pflichtbewusst oder gelangweilt betrachten. Aber aus irgendeinem Grunde fesselt dieses Museum Jonah noch mehr als der riesige Rodelschlitten aus Dinosaurierknochen unten an der einundachtzigsten Straße. Er steht vor einer Ritterrüstung, als wolle er sie für eine persönliche Fehde anlegen. Ich weiß nicht, was er sieht – phantastische Begebenheiten mit Königen und Katapulten und unerschrockenen Drachentötern, eine Gutenachtgeschichte für kleine Jungs. Er kichert, bereit, irgendwo in den Kulissen der Zeit zu ver-schwinden, wo keiner vor ihm je gewesen ist.
Pa schiebt uns weiter. Dem Druck dieser Hand gebe ich immer nach. Wir betreten einen abgedunkelten Raum, grau und kalt, das steinerne Herz eines Märchenschlosses, herausgeschnitten und an diesen Ort verpflanzt, hier an die Spitze unserer Insel. »Seht ihr das Bild?«, fragt Pa. Er zeigt auf einen Vorhang aus schwerem Stoff, der die gesamte Breite der Wand einnimmt, einen riesigen grünen Teppich mit Blumenmuster. Ich suche das Bild auf dem Riesending, aber zwischen den Pflanzen verbergen sich Millionen von Bildern.
»Was ist das? Was seht ihr?« Pa wartet mit glücklicher Miene auf meine Antwort. »Ein Einhorn, ja? Wie sagt man auf Englisch?«
» Unicorn«, sagt Jonah. Das Wort steht überall auf den Hinweistafeln. Aber Pa liest sie nicht.
» Unicorn ? Uni-corn!« Das Wort fasziniert ihn.
Das Tier ist weiß und riesengroß, so groß, dass es das ganze Bild ausfüllt. Pa legt den Kopf in den Nacken und schaut. Er starrt auf einen Punkt jenseits des Einhorns, hinter dem Wandteppich, jenseits der Wand, an der es hängt. Er nimmt die Brille ab und beugt sich vor. Er murmelt etwas Unverständliches auf Deutsch. Dann fragt er: »Woraus ist das Bild?«
Jonah schaut auch. Aber für ihn ist das Antworten nicht so wichtig wie für mich. Mein Auge fährt Achterbahn. Der Wandteppich ist so groß, dass man ihn nicht auf einmal erfassen kann. Ich kann die Teile nicht zusammensetzen, kann sie, weil ich so klein bin, gar nicht alle sehen. Das Einhorn sitzt in einer Art Gefängnis hinter einem runden, dreistufigen Zaun, den es leicht überspringen könnte, wenn es wollte. Um den Hals trägt es einen verzierten grünen Gürtel; er sieht aus wie etwas, das Mama zum Kirchgang anziehen könnte. Was ich für einen Springbrun-nen gehalten habe, ist in Wirklichkeit der Schweif des Einhorns. Ein gespenstisches Wesen, das in der Luft tanzt, entpuppt sich als der Bart des Tiers. Es sitzt oder liegt oder bäumt sich
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