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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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ihr, wie man das machen muss. Der Klang der Zeit.«
    Er führt uns zur ersten Stuhlreihe, und wir setzen uns. Deswegen sind wir hier. Das magische Mandelbrot war nur eine Etappe auf dem Wege, Brennstoff, damit wir es bis hierher schafften. Von Anfang an waren wir auf dem Weg zu diesem unverhofften Konzert gewesen, dieser gestohlenen und wieder aufgebauten Ruine der Geschichte.
    Ein Sonntag im Frühjahr 1949. Die Welt ist älter als ich mir je ausgemalt habe. Aber jedes Jahr, das sie durchgemacht hat, steckt noch irgendwo in einem arkadengesäumten Hof. Der Raum, in dem wir hier sitzen, riecht nach Moos und Moder, nach Lack und Schellack, nach Sachen, die zu lange in Taschen voller Flusen gesteckt haben, brüchiges Papier, das wieder zu den Fasern wird, aus denen es einst entstand. Ich bin nicht Teil der Gegenwart dieses Raums, auch wenn ich jetzt darin sitze. Nur durch ein Wunder (eines, das Pa mir nicht erklärt) kann ich das alles sehen. Jeder Flecken dieser Erde hat seine eigene Uhr. Manche sind bereits in der Zukunft angekommen. Andere noch nicht. Jeder Ort verjüngt sich in seinem eigenen Tempo. Es gibt kein Jetzt und wird nie eines geben.
    Nun, da er weiß, dass ein Konzert bevorsteht, wird mein Bruder ruhig. Vor meinen Augen altert er, und bald sitzt er braver, gerader, aufmerksamer da als jeder Erwachsene. Aber noch im selben Augenblick, in dem die Sänger den Raum betreten, springt er von seinem Stuhl auf und applaudiert begeistert. Alle Sänger kommen in Schwarz. Ihre Bühne ist so klein, sie sind fast zum Greifen nah. Jonah beugt sich in seiner Begeisterung vor und berührt eine der Sängerinnen, und die Frau erwidert seine Berührung. Alle lachen, auch die Sängerin, dann drückt Pa Jonah zurück auf seinen Stuhl.
    Es wird still, alles Trennende ist aufgehoben. Die Stille weicht dem Einzigen, was auf sie folgen kann. Es ist das erste öffentliche Konzert, an das ich mich erinnere. Nichts, was ich bisher gesehen habe, bereitet mich auf dieses Erlebnis vor. Es durchdringt mich ganz, erschafft mich neu. Ich sitze im Mittelpunkt einer Weltkugel des Gesangs, die mir den Weg zu mir selbst weist.
    Mit sieben kann ich noch nicht wissen, dass ein Mensch froh sein kann, wenn ihm so etwas ein einziges Mal im Leben geschieht. Ich unterscheide Dur von Moll, ich merke, wann jemand falsch singt. Aber noch fehlt mir die Erfahrung, gewöhnliche Schönheit vom Außerordentlichen zu scheiden. Ich werde nach diesem Gesangensemble mein Leben lang suchen – auf Schallplatten, Tonbändern, Laserscheiben. Ich werde zu Konzerten gehen und hoffen, dass das Erlebnis noch einmal kommt, und enttäuscht davonziehen. Ich werde immer auf der Suche sein nach diesen Stimmen und finde sie doch nie, außer in der Erinnerung, der ich nicht trauen kann.
    Ich könnte den Namen des Ensembles herausfinden, könnte im Archiv des Museums nachforschen nach diesem Sonntagskonzert vor fünfzig Jahren, zwei Jahrzehnte bevor mehr als nur ein kleines Häuflein historisch Gesinnter auf den Gedanken kam, das erste Jahrtausend europäischer Musik wieder zu beleben. Ich könnte nachforschen, was aus den Sängern geworden ist: Jedes Jahr, das wir durchleben, wird ir-gendwo gespeichert, vielleicht nicht mehr in der Schreibstube eines Klosters, aber doch in einem stählernen Aktenschrank und auf Computerchips. Aber was ich herausfände, würde nur die Erinnerung zerstören. Für das, was ich dort an jenem Tag gehört habe, gibt es keine Namen. Wer kann sagen, wie gut die Sänger wirklich waren? Für mich waren sie wie Engel.
    Am Anfang ein Ton so strahlend wie die gleißende Sonne. Ein Ton wie das Blut, das durch meine Adern pulst. Die Frauenstimmen beginnen allein, mit einer Note so weit und so dimensionslos wie mein Vater die Gegenwart beschreibt. Kyyy, erklingt es aus den gespitzten Lippen – fast wie der Freudenlaut, den die kleine Ruth immer ausstieß, bevor wir sie zum Sprechen animieren konnten. Der Laut eines einfachen Wesens, verblüfft durch den eigenen Lobgesang, ehe es sich zur Ruhe begibt. Sie singen zusammen, für einen letzten Augenblick tief verbunden, bevor die Schale aufbricht und alles geboren wird.
    Dann riii. Die Note teilt sich und wird zu ihrer eigenen Begleitung. Die größere Frau singt scheinbar tiefer, doch sie hält nur den Ton, während die kleinere an ihrer Seite eine große Terz höher geht, das erste Intervall, das jedes Kind, gleich welcher Hautfarbe, singen lernt. Vier Lippen formen den Vokal, ein Gebilde aus Luft, älter

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