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Der Klang der Zeit

Der Klang der Zeit

Titel: Der Klang der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Powers
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er zum ersten Mal den Pierrot hörte?«
    »Ich kenne die Geschichte, Pa.«
    ›»Ich wünschte, die Frau würde den Mund halten, damit ich die Musik hören kann!‹ He, du solltest lachen, Jüngele. Das ist witzig.«
    »Beim ersten Mal habe ich gelacht, Pa. Vor hundert Jahren. Ruth hat sich nicht blicken lassen«, fuhr Jonah mit erzwungener Nonchalance fort.
    »Sie kommt jetzt ins komische Alter«, erklärte Pa.                         
    Jonah schnaubte. »Wann fängt das komische Alter an?«              
    »Das komische Zeitalter? So etwa 1905«, witzelte ich.
    »Sie schämt sich. Es ist ihr peinlich, wenn sie mich auf der Bühne sieht, mit Theaterschminke im Gesicht. Wie ich mich zum Hofnarren der Elite mache.«
    In seiner Stimme schwang eine Note mit, die ich noch nie gehört hatte. Pa winkte ab, als seien seine Befürchtungen unbegründet. »Das Mäd-chen ist gerade mal zwölf.« Aber Jonah hatte Recht. Ruth blieb jetzt immer häufiger zu Hause, so oft sie konnte, war lieber mit ihren Freundinnen zusammen als mit ihrer Familie. Sie hatte Ohren für andere Dinge – andere Stimmen, andere Melodien.
    Nicht lange nach dem Schönberg hörten Pa, Jonah und ich per Zufall im Radio die Übertragung eines schwachen Signals aus dem Weltraum. Das erste menschliche Ding, das der Oberfläche der Erde entflohen war, sendete seine Signale dorthin zurück. Ich dachte an die Sternenkarte, das einzige Dekorationsstück, mit dem Jonah und ich das verschlossene Zimmer unserer Kindheit in Boylston verschönert hatten. Wir hockten zusammen um das Familienradio und hörten das regelmäßige Piepsen, das erste Wort von da draußen, die erste Botschaft aus der Zukunft.
    Für Jonah war es genau das Gegenteil. Seine Ohren waren auf ganz andere Frequenzen ausgerichtet, die bahnbrechende Vergangenheit, in die alle Signale über kurz oder lang einmünden würden. »Joey. Hörst du das ? Schönbergs Streichquartett Nummer zwei. Es passiert, Bruderherz. Und zu unseren Lebzeiten! ›Ich fühle Luft von anderem Planeten.‹«
    »›Ich fühle Luft von anderem Planeten‹«, murmelte Pa vor sich hin, gefangen in einer fernen Umlaufbahn der Erinnerung.
    Das piepsende Metronom aus dem Äther lockte Ruthie aus ihrem Zimmer. »Ein Signal aus dem Weltall?« Das Gesicht meiner Schwester ist erfüllt von Angst und Hoffnung. Rasch legt sie eine Hand seitlich neben die Augen, um ihr Blickfeld zu begrenzen. Ich wusste, was ihr durch den Kopf ging. »Das kommt von irgendwo anders?«
    Pa lächelte. »Von dem ersten Satelliten im Weltall.«
    Ruth winkte ab, ungehalten über seine Begriffsstutzigkeit. »Aber da draußen ist jemand? Und sendet ...«
    Pa formulierte die Korrektur seiner Korrektur. »Nein, Kind. Nur wir. Allein und im Gespräch mit uns selbst.«
    Ruth zog sich wieder in ihr Zimmer zurück. Ich wollte ihr folgen, aber sie machte mir die Tür vor der Nase zu.
    Das Piepsen aus der Umlaufbahn im Weltraum bestärkte Jonah in seiner Rebellion. Abends studierte er neue Notenschriftsysteme, bat mich um Hilfe bei der Entschlüsselung dieser Hieroglyphen, selbst wenn seine Lehrer ihn Salonmusik aus der Belle Epoque üben ließen. In der Zukunft, die seine progressive Musik erschuf, war alles in das gleiche blendend helle Licht getaucht. Wenn die Zeit reif war, würde er frei sein, würde von seiner Umlaufbahn im Weltraum, aus dem endlosen Vakuum Signale zur Erde senden.
    Ich hörte ihn in der Schule, wie er, einige Übungsräume von mir entfernt, schwerelos seine chromatischen Tonleitern emporschwebte. Meine eigenen Übungsstunden waren mühsamer, erdgebundener. Mr. Bateman gab mir Griegs Lyrische Stücke. Jedes Mal, wenn ich meinem Lehrer etwas vorspielte, korrigierte er meine Finger, Handgelenke, Ellenbogen. Mein Körper kam mir vor wie eine Verlängerung des Klaviers, als reiche der Schlag dieser flinken Hämmerchen bis in das komplexe Geflecht meiner Muskeln.
    Ich arbeitete systematisch an den Lyrischen Stücken, alle zwei Wochen eins, jeden Nachmittag ein paar Dutzend Takte. Ich wiederholte eine Phrase so lange, bis sich die Noten unter meinen Fingern auflösten, wie ein Wort, das, wenn man es oft genug sagt, wieder zum reinen, sinnfreien Klang wird. Ich teilte zwölf Takte in zweimal sechs und immer so weiter, bis nur noch ein einziger übrig war. Diesen einen Takt spielte ich: zögernd, suchend, noch einmal von vorn, erst leise, dann mezzo, dann Note für Note nacheinander. Ich experimentierte mit den

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